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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 4 (2. Novemberheft)
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Marr, Heinz: Staatserhaltende Fahrpreisermäßigungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0310

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sten" politischen, konfessionellen oder sonstigen Gegensätze getrennt sein.
Ia, diese „Frage", die wahrhaftig keine mehr ist, war die einzige, die
außerhalb des unseligen Streits der „Nichtungen" lag. Sie hätte also
Anlatz zur allmählichen Verständigung der streitenden Geister bieten
können, — zu Zweckverbänden der freien Iugendarbeit, die nnter Ver--
zicht auf Gesinnungsklauseln alle Beteiligten auf den neutralen Boden
ihrer unzweifelhaft gemeinsamen Bedürfnisse zusammengeführt haben wür-
den. In der Tat: Wollten wir die Lüge einer „spezifisch-patriotischen"
oder „spezifisch-marxistischen" Menschenbildung überwinden und den
erzieherischen Bemühungen die erforderliche Amabhängigkeit von den Ab-
sichten politischer Machtbildung verschaffen, so gab es n u r diesen Weg,
Denn beseitigen lassen fich die verschiedenen Nichtungen nicht mehr, wohl
jedoch hätte die Verständigung in den elementaren Interessen (als da
sind: Beschaffung von Spielplätzen, Organisation des Wanderns, Ein-
richtung von Iugendwerkstätten, Förderung der volkstümlichen Kunst-
pflege usw.) nach und nach ans dem Zwange der Dinge heraus wenigstens
die Manieren im „Kampf um die Iugend" zum Wohle der Iugend ver-
bessert. Aber eben diese Möglichkeiten einer realistischen Lösung des
Konflikts sind uns Iugendarbeitern durch den Erlatz vom (5. Iuli mit
Absicht versperrt! Ich sage im vollen Vewußtsein der Schwere dieses
Vorwurfs: mit Absicht. Denn welche sachlichen Gründe kann es geben,
die Förderung der „körperlichen Ertüchtigung" nnsrer Iugend von Ge-
sinnungsbedingungen abhängig zu machen? Gewiß, dürfen die Eisen-
bahnen Bürgschaften für den sinngemäßen und würdigen Gebrauch ihrer
Vergünstigung fordern und hier, wo es sich um erzieherische Maßnahmen
handelt, auch erzieherische Motive mitsprechen lassen. Ich scheue mich
vor der Behauptung nicht: man hätte getrost den Begünstigten beispiels-
weis die Verpflichtung abnehmen können, sich auf ihren Fahrten des
Alkohols zu enthalten, Wald und Feld zu schonen und sich durch anständiges
Betragen des Vorrechts wert zu erweisen. Ob eine Iugendvereinigung
eine fünfzigprozentige Fahrpreisermäßigung für ihre Wanderungen ver-
dient, wird ja kaum aus ihren Satzungs-„Zielen" sondern einzig aus
ihrem Verhalten auf den Wanderungen selbst hervorgehen. Man kann
nämlich auch „für Kaiser und Reich" eine Bierreise machen, die Felder
zertreten und rauchend und johlend durch den Wald ziehen. — Oder hat
dio sozialistische Agitation recht, wenn sie behauptet, daß sogar hinter
der Forderung der „körperlichen Ertüchtigung" nur politische Absichten
steckten? Man wird es bestreiten, so gut wie es die Generäle, die den
Iungdeutschland-Bund gründeten, bestritten haben, daß „für Kaiser und
Reich" überhaupt eine politische Parole wäre. Aber was bei Generälen
eine sogar sympathische Ankenntnis der Massenstimmung sein kann, ist bei
Männern, die zum Regieren berufen sind, mindestens ein Mangel an
Realismus in der Behandlung schwieriger Zusammenhänge! — Nach
all den schreienden Mißerfolgen in der amtlichen Bekämpfung der Sozial-
demokratie noch immer keine Spur von Bereitwilligkeit, aus Fehlern
zu lernen? In all den Amtsstuben kein Mann von Einfluß mit wahr-
haft politischem, aristokratischem Instinkt, keiner, der die großen
Ehancen einer klugen, versöhnlichen Tat, die Äberlegenheit vornehmer
Vorurteilslosigkeit erkannte? Keiner, der vor den besonderen Ge-
fahren dieses Erlasses gewarnt HLtte? Hier werden ja nicht nur „Ge-

^ 250_ _____Kunstwart XXVI, H
 
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