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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 4 (2. Novemberheft)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0320

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ihr eignes Leben poetisierend erzählt, klagt sie nächtlicher Weile das
Leid ihrer jungen Tage ihrer verheirateten Schwester Anna Brogren,
der Pröpstin, die zu Besuch auf dem Pfarrhof ist. Sie wählt die Mär-
chenform, da sie heimliche Zuhörerschaft fürchtet — und man wird leicht
fühlen, wie gut diese Fwrm für die drolligen und bitteren Erlebnisse der
Pfarrerstochter und der Pfarrersfrau paßtZ

N

ie Pfarrerstochter erzählte weiter.

A „Wenn ich mich recht erinnere," sagte sie, „so war Schneewittchen
noch nicht länger als acht Tage wieder daheim, als der Küster
Moreus und seine Frau Ulla zu Besuch kamen. Ich kann gar nicht sagen,
wie vergnügt Schneewittchen war, als sie ankamen. Es stand allerdings
jetzt alles wohl und gut zwischen ihr und der Stiesmutter, aber sie mußte
immerfort arbeiten. Den ganzen Tag hindurch trat sie den Webstuhl
und ließ das Schisflein an einem groben Drillgewebe hin und her
fliegen, und wenn sie sich am Abend zu Bette legte, tat ihr der Rücken
bitter weh. Da war es gut, wenn jemand zu Besuch kam, weil sie dann
einige Stunden von der Arbeit befreit war.

Ach, ach! Schneewittchen dachte im stillen, sie werds sicherlich nie-
mals solche Lust zum Arbeiten bekommen wie die Stiefmutter. Auch
würde sie wohl nie so fingerfertig und geschickt werden wie diese. Die
Stiefmutter konnte wundervollen Damast weben, mit einer Bordüre,
auf der die ganze Arche Noah abgebildet war. Schneewittchen merkte
wohl, daß die Stiefmutter sie für eine rechte Stümperin hielt; aber
sie hoffte trotzdem, die Mutter werde verstehen, wie sehr sie sich Mühe
gab, es ihr recht zu machen.

Alla Moreus kannte die Stiefmutter schon von der Zeit her, wo
diese noch Haushälterin auf Borg* gewesen war, und die beiden ver-
standen sich gut miteinander. Außerdem war Ulla mit ihrer Schwieger-
mutter vor ganz kurzem zur Herbstbäckerei aus Borg gewesen, da hatte
sie viel von der gnädigen Frau Gräfin zu berichten! Schneewittchen
merkte auch wohl, wie sehr sich die Stiefmutter freute, von allen den
tollen Streichen zu hören, die die Gräfin wieder ausgeheckt hatte.

Wenn ich aber die Wahrheit sagen soll, so glaube ich: wer am ver-
gnügtesten über den Besuch war, war doch ihr Herr Vater. Schnee-
wittchen sah mit Freude, wie er das würdevolle Benehmen, das er seit
seiner Verheiratung angenommen hatte, abwarf und wieder ganz wie
früher wnrde. And sie sagte sich: »Ich weiß nicht, wo sich mein Väter-
chen in der letzten Zeit aufgehalten hat, denn ich bin nicht mehr mit
ihm zusammen gewesen, seit wir miteinander nach dem südlichen Anger
gingen, um nach den Mähern zu sehen.«

Ach, Schneewittchen wußte es nur zu gut! Um ihretwillen wagte der
Vater nicht mehr zu lachen oder zu scherzen. Sein Gewissen machte ihm
Vorwürfe, weil er ihre Erziehung bisher so schlecht geleitet hatte. Siehst
du, er dachte, Schneewittchen wäre bei ihrer Nückkehr niemals so auf
ihn und die Mutter losgefahren, wenn er sie nicht verwöhnt gehabt
hätte; darum sollte sie von jetzt an streng gehalten werden, das hatte

* dem Schloß der Gräfin


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