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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1912)
DOI Artikel:
Salomon, Alice: Von der Charitas zur Sozialpolitik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0387

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politik zurücklegen mußte, an Beispielen erläutern, so braucht man sich
nur zu vergegenwärtigen, welche sozialen Aufgaben Gemeinde und Staat
übernommen haben, wie vieler ehrenamtlich tätiger Bürger sie bedürfen,
um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Die Hungrigen, die wir heut
zu speisen haben, sind nicht Bettler, die an unsre Türen klopfen, son-
dern Tausende von Schulkindern, deren Mütter auf Arbeit sind, und
für die es gilt, Speisungen im Anschluß an die Schul-- oder die Armen--
verwaltungen einzurichten, zu leiten, zu überwachen. Hier sind un--
zählige Frauen und junge Mädchen nötig, die feststellen, welche Kinder
solcher Hilfe bedürfen, die die Organisation dieser hauswirtschaftlichen
Massenbetriebe in die Hand nehmen können, für Güte der Speisen, für
Ordnung und Reinlichkeit und Anstand bei der Abwicklnng der Speisung
sorgen und den großen erziehlichen Wert, den diese Institution ent--
halten kann, entwickeln und entfalten. Die Kranken, die unsrer Pflege
bedürfen, können wir meist nicht in ihrer Häuslichkeit besuchen und mit
persönlichen Handreichnngen pflegen und erleichtern; sondern wir müssen
dafür sorgen, daß unsre Gemeinden und Versicherungsanstalten Kranken-
häuser und Erholungsstätten errichten. Diese Anstalten müssen von
Kuratorien geleitet werden, in denen nicht nur praktische Tüchtigkeit,
wirtschaftliches Können, sondern auch warmes Mitgefühl und mensch-
liches Verstehen benötigt wird. And wenn es von jeher als selbst-
verständliche Pflicht der Nächstenliebe gegolten hat, den Kranken und
den Armen zu dienen, so ist es heut ebensosehr unsre selbstverständliche
Pflicht, Freude in das Leben all der Tausende zu bringen, die tagaus,
tagein in der Fabrik bei müder, stnmpfmachender, mechanischer Arbeit
verharren müssen; für bessere Wohnungsverhältnisse zu sorgen, damit
nicht das Schamgefühl der heranwachsenden Iugend unterdrückt und
getötet werde; in unsern Städten darauf zu dringen, daß Spielplätze
für die Iugend, Gärten und Parkanlagen geschasfen werden, damit auch
die arbeitende Bevölkerung Gelegenheit zur Erholung und zur Kräfti-
gung ihrer Gesundheit findet. Wir müssen den Kampf führen gegen
Gesetze und Verwaltungen, die dem Laster gestatten, sich ungehindert aus-
zubreiten, den Kampf auch dagegen, daß in unsern Straßen sich
Schankstätte an Schankstätte reiht, und daß Schmutz und Schund in
Wort und Bild sich breitmachen darf. Es gilt, Volksgesundheit und
geistige Kultur zu heben und zu fördern, indem den Massen kürzere
Arbeitszeiten gesichert werden, indem Schutzgesetze sie vor übermäßiger
Ausbeutung bewahren. Es gilt schlechthin: überall dahin zu streben,
daß das Gemeinschaftsleben in stärkere Abereinstimmung mit den Forde-
rungen der Gerechtigkeit gesetzt werde.

Das alles kann nicht von einigen Wenigen für die Vielen geschaffen
werden. Es ist nicht eine Angelegenheit von Politikern und Parla-
menten, sondern eine Angelegenheit aller Bürger und aller Bürgerinnen.
Nicht nur, weil die Bürger die Stadtverwaltung und die Volksvertre-
tung wählen und deshalb einen Einfluß auf das ausüben können, was
im sozialen und öffentlichen Leben geschieht, und nicht nur, weil auch
die Bürgerinnen ein Interesse an dem haben, was mit öffentlichen Mitteln
geleistet wird. Sondern weil der Kreis, in den das Leben uns hinein-
stellt, der Kreis, aus dem der Einzelne wirtschaftliche und geistige Güter
empfängt, sich erweitert hat, und weil er deshalb diesem ganzen erweiterten

s. Dezemberheft 3s7
 
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