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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1912)
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Malzan,...: "Status quo" und "Nichteinmischung": auch etwas über Kultur und Politik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0464

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beutungsmöglichkeiten für den modernen Kapitalismus bieten. Sonst
tritt als Ersatz das Prinzip der „Nichteinmischnng in die inneren
Angelegenheiten eines fremden Staates" in Tätigkeit. Beim „Ltatus
guo" denkt man gewöhnlich an den bestehenden Znstand in Reichen,
deren innere Angelegenheiten zum Teil schon auswärtigen Mächten
unterworfen sind; es handelt sich dann darum, daß die einmal ge--
schaffenen fremden Einslußsphären nicht wesentlich verändert, außer-
dem keine neue gebildet und vor allem keine Gebietsteile förmlich ab-
getrennt werden sollen. Die Forderung der Nichteinmischung in die
inneren Angelegenheiten eines fremden Staates hat es gewöhnlich mit
weniger groben Dingen zu tun. Dafür kommen meist nur Staaten
in Betracht, für die die Gefahr eines förmlichen Gebietsverlustes in
der Regel nicht zu den aktuellen Fragen gehört, in denen es zudem
keine osfenbare sremde Interessensphären geben kann. Hierbei ist
es daraus abgesehen, daß die Art der Herrschaftsausübung der bestehen»
den Regierung keinen sremden Linwirkungen unterworfen sein soll,
daß das jeweilige Machtverhältnis zwischen den Regierenden und
den Regierten vom Ausland als ein bestehender Zustand geachtet
werde. Innig verwandt sind die beiden Prinzipien aber osfenbar.
Auch der Wille zur Nichteinmischung hört darum bei einer modernen
Macht da aus, wo die Möglichkeit anfängt, sich zum eigenen Vorteil
oder zum Nachteil dritter mißliebiger Regierungen ohne viel Gefahr
irgendwo einmischen zu können. Wagemut gehört heutzutage meist
nicht mehr zu den Anforderungen, denen ein Diplomat genügen muß.
Im Gegenteil: je furchtsamer einer ist oder tut, desto besser wird er
seine Obliegenheiten erfüllen. Darum wird das Gebot der Nicht--
einmischung in hie inneren Angelegenheiten eines sremden Staates
viel seltener übertreten als das der Aufrechterhaltung des status guo
in unentwickelten Ländern.

Leider hat die Ideologie der modernen Diplomaten aus die politi--
schen Triebe der Völker, für die sie wirken, mit der Zeit einen narkoti--
sierenden Linfluß ausgeübt. Die ösfentlichen Meinungen sehen be--
reits in jenen beiden Prinzipien Forderungen der reinen Tugend
an die von Natur lasterhafte Politik. Insbesondere in Deutschland
haben schon weite Gesellschastskreise die Fähigkeit verlernt, sich für
die Schicksale unterdrückter Völkerschasten zu erwärmen, weil sie wäh-
nen, ein politisch reises Volk müsse dem kulturfeindlichsten Staats-
wesen das Recht zuerkennen, mit den eigenen Untertanen im eigenen
Lande nach Belieben umzuspringen. Als ob die Menschen da wären
um der Staaten willen, als einer Art moderner Dschaggernautwagen,
und nicht umgekehrt die Staaten um der Menschen willen. Nnd als
ob die Zuneigungen politischer Machthaber auf die Dauer frucht-
barer sein könnten als die Zuneigungen der Völker, für die doch
der Verlust einer Staatssorm nicht viel mehr bedeutet als für einen
Baum der jährlich sich wiederholende Vorgang der Lntlaubung. Wie
viele Staaten haben nicht Lie Iuden bei sortwährenden politischen Ver-
solgungen überlebt, trotzdem sie längst aufgehört haben, zu den staaten-
bildenden Völkern zu gehören! Nnd gibt es heute nicht mehr als dop-
pelt soviele, und sogar in viel gesünderer wirtschastlicher Verfassung
lebende Polen als vor der Zertrümmerung des polnischen Reiches? Der

^ 378 Kunstwart XXVI, 6^
 
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