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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1912)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0503

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Auf eine Christblume

^oochter des Walds, du lilienverwandte,
-«^so lang von mir gesuchte, unbekannte,

im fremden Kirchhof, öd und winterlich,
zum erstenmal, o schöne, find ich dich!

Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,
ich weiß es nicht, noch wessen Grab du hütest,
ist es ein Iüngling, so geschah ihm Heil,
ist's eine Iungfrau, lieblich fiel ihr Teil.

Im nächtgen Hain, von Schneelicht überbreitet,
wo fromm das Reh an dir vorüberweidet,
bei der Kapelle, am kristallnen Leich,
dort sucht ich deiner Heimat Zauberreich.

Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne,
dir wäre tödlich andrer Blumen Wonne,
dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
himmlischer Kälte balsamsüße Luft.

In deines Busens goldner Fülle gründet
ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet;
so duftete, berührt von Engelshand,
der benedeiten Mutter Brautgewand.

Dich würden, mahnend an das heilige Leiden,
fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden:
doch kindlich zierst du um die Weihnachtzeit
lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.

Der Elfe, der in mitternächtger Stunde
zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
vor deiner mystischen Glorie steht er scheu
neugierig still von fern und huscht vorbei.

2

Im Winterboden schläft, ein Blumenkeim,
der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
in Frühlingsnächten wiegt den samtnen Flügel;
nie soll er kosten deinen Honigseim.

Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist,

wenn jede Zier des Sommers hingesunken,

dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,

mir unsichtbar, dich Blühende umkreist? Mörike

2. Dezemberheft
 
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