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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1912)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0505

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stäbe anlegen? Man würde ihm
damit Amrecht tun. Er läßt völlige
Systemlosigkeit walten. Eine be-
schränkte Anzahl berauschend wir-
kender Begriffe ist es, die in seinen
Schriften immer wiederkehrt. Nur
wer bereits den Zusammenhang
kennt, wird sie überhaupt im rich-
tigen Sinne erfassen: der schöpfe-
rische Drang der Lebensmacht des
Alls (schöpserische Lebensbewegung
Gottes), das wahre Wesen des
Menschen (oder wahres Selbst oder
verborgene Wahrheit des Menschen
oder Geheimnis des Menschen), das
Arsprüngliche, das Persönliche, die
Menschwerdung (oder die Schöpfung
der Menschheit), die Naturgesetze der
Menschwerdung, die Arzelle des
werdenden Lebens (oder die em°
bryonischen Vorgänge des neuen
Lebens, die Geburtswehen des neuen
Wesens), das neue Sein, in dem
sich „ein genialer Zug" offenbart,
die Neuordnung der Dinge, das
neue Werden, die innere Bewegung,
die „ganz neue eigenartige" Kultur,
die neue Sittlichkeit: Das sind
seine etwas vieldeutigen Lieblings-
worte.

Das unabhängige Arteil wird
auch über Müller die fortschreitende
Zeit fällen. Der erste, der versucht
hat, Müllers Lehre unter allge-
meinenKulturgesichtspunkten frucht-
bar zu machen, abweichend von den
beiden Schriften der Theologen Rit-
telmeyer und Mergelin, ist Hein-
rich Driesmans in seinem Buche
„Wege zur Kultur". Neben Tolstoi
hat Nietzsche am stärksten auf
Müller eingewirkt. Nun überragt
Nietzsche aber Iohannes Müller
unendlich an philosophischer Phan-
tasie, und es erscheint von unter-
geordneter Bedeutung, daß der
Spätere, aus angeblich naturwissen-
schaftlichen Gründen, den Aber-
menschen aufgibt und beim Men-
schen als Selbstzweck stehen bleibt.

2. Dezemberheft (9(2

Verglichen mit der Arwaldtrieb-
kraft des Nietzscheschen Denkens
mutet der Theologe wie eine Treib-
hauspflanze an. „Aber auch Iesus,
der Schöpfer persönlichen Lebens,
war kein spekulativer Denker, kein
Theoretiker."

Müllers Entwicklung von
Nietzsche zu Iesus ist eigentümlich
genug. Lr meint, in Iesus den
Entdecker des transzendenten Selbst
des Menschen erkannt zu haben;
er behauptet, ein Organ gefunden
zu haben für dies Etwas, das
hinter den Dingen liegt.
Nur darum sind wir ja so unbe-
friedigt, weil uns die geheimnisvolle
Wahrheit des Menschen wie ein
beständiger Vorwurf gegen unser
jetziges unechtes Dasein verfolgt.
Denn die Naturwelt ist fertig, die
Menschenwelt noch nicht. „Archi-
medes" — so versucht Müller ein-
mal seine Ansicht auszudrücken —
„soll gesagt haben: Gib mir einen
Punkt außerhalb und ich will die
Welt aus den Angeln heben. Wir
haben den Punkt. Der Punkt
außerhalb der Welt liegt in uns.
And wenn wir diesen Punkt ge-
sunden haben und uns darauf stel-
len, dann sind wir imstande, die
Welt aus den Angeln zu heben."
Müller hat gewissermaßen Iakob
Böhmes Wort: „Wenn du dich
selbst dazu bringen kannst, stille zu
sein, so wirst du unaussprechliche
Worte Gottes vernehmen," für viele
mit einem neuen Inhalte erfüllt,
indem er die mystische Beziehung
zu der Schöpferkrast der Welt als
Erlebnis, als psychologische Tat-
sache beleuchtete.

Wo er aber von einer „neuen,
völlig anderen" Kultur redet und
die heutigen Verhältnisse mit schar-
fen Worten geißelt, da versäumt er
es, den Weg aufzuzeigen, der von
den einzelnen Kulturerscheinungen
weiterführt. Er stellt sich zu der
 
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