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Pfälzner, Peter
Haus und Haushalt: Wohnformen des dritten Jahrtausends vor Christus in Nordmesopotamien — Mainz am Rhein, 2001

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https://doi.org/10.11588/diglit.29472#0410

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Kapitel 17. Die Entwicklungszyklen der
nordmesopotamischen Haushalte des 3. Jtsds. v. Chr.

Die nordmesopotamischen Häuser des 3. Jtsds. folgen
sehr unterschiedlichen Hausformen und Hauskonzep-
ten. In den Häusern jedes Hauskonzeptes findet sich
aber jeweils ein Raum, der als «Kernraum» ausgewie-
sen ist. Er zeichnet sich durch seine Größe meist als
Hauptraum aus und besitzt darüber hinaus charakteri-
stische Installationen wie einen Herd in der Raummitte
oder zumindest in einer Raumachse und an einer oder
mehreren Wänden verlaufende Bänke (s. Kap. 12.1:
A Ilb; Abb. 77). Dieser «Kernraum» läßt sich als Wohn-
raum einer Kernfamilie deuten.

Im Unterschied zu vielen heutigen Häusern der
Gazira ist in den Häusern des 3. Jtsds. keine aus zwei
Räumen bestehende Kernraumgruppe festzustellen, die
auf eine Trennung von männlichem und weiblichem
Wohnraum hinweisen würde. Aus diesem Grund ist
davon auszugehen, daß die «Kernräume» dieser Häuser
nicht geschlechterspezifisch genutzt wurden und daß sie
sowohl der Familienzusammenkunft als auch dem even-
tuellen Empfang von Besuchern dienten.

Kernräume lassen sich meist in allen Nutzungsphasen
der Häuser des 3. Jtsds. nachweisen. Im Ursprungsplan
bestehen einige Hauskonzepte, die Doppelbogenhäuser
und die Einzelraumhäuser, sogar ausschließlich aus
einem Kernraum, der als multifunktionaler Wohnraum
genutzt wurde. Sie belegen, daß der Entwicklungszyklus
dieser Haushalte mit der Niederlassung einer Kern-
familie begann. Auch in den späteren Nutzungsphasen
der Häuser verschiedener Hauskonzepte sind die Kern-
räume oft durch zahlreiche hinzugekommene Räume
ergänzt, jedoch an Hand ihrer spezifischen Ausstattung
und ihrer räumlichen Position in den meisten Fällen
deutlich als Kernräume erkennbar.

Auch für die Haushalte des 3. Jtsds. muß in Rech-
nung gestellt werten, daß die Familienzusammensetzung
nicht statisch war, sondern ständigen Veränderungen
unterworfen sein konnte. Aus diesem Grund sind für
eine Beurteilung der Familienformen der nordmeso-
potamischen Haushalte zunächst deren Entwicklungs-
zyklen zu betrachten und zu interpretieren. Dies soll an
zwei Beispielen demonstriert werden:

17.1. Archäologisches Beispiel a:
Das Haus I von Tall Bderi

Im Ursprungsplan (Phase 10) bestand dieses Haus aus
einem großen Bogenraum (N/O), der als Kernraum zu
deuten ist, sowie einem Mahlraum (BI) und zwei Ne-
benräumen (S, Y), die als Arbeits-/Vorratsräume oder
Stall benutzt wurden (s. Kap. 13.3; Taf. 2). Das Haus
diente also als Wohnstätte einer Kernfamilie (Abb. 115).
Die Räume bilden im Ursprungsplan in ihrer Anord-
nung um einen Hof eine architektonische Einheit, die
die geschlossene Familienform widerspiegelt.

Im Verlauf der Nutzung des Hauses bis zur Phase 8
wird diese geschlossene Einheit schrittweise in zwei
architektonische Untereinheiten getrennt (s. Kap. 13.3;
Taf. 4-5). Der Mahlraum ist nicht mehr direkt vom Hof
aus zugänglich, sondern wird in den hinteren Teil des
ehemaligen großen Kernraumes N/O integriert. Die
Funktion des Kernraumes wird auf die westliche Hälfte
(N) des ehemaligen großen Raumes N/O beschränkt
und durch einen nur von ihm aus zugänglichen Vorrats-
raum (R) ergänzt. Dieser architektonischen Untereinheit
steht im südlichen Hausteil eine zweite gegenüber, die
die schon in der nördlichen Einheit vorhandenen Funk-
tionen Nahrungszubereitung und Kochen/Heizen wie-
derholt (Taf. 4). Die aus der architektonischen Entwick-
lung ablesbaren funktionalen Veränderungen sprechen
dafür, daß sich innerhalb des Hauses eine zweite Kern-
familie etabliert hat (Abb. 116). Da die Bewohner-
gruppe in Haus I nach Ausweis der Nutzungsphasen-
abfolge kontinuierlich bestanden hat, dürfte die zweite
Kernfamilie aus dem Entwicklungszyklus des Haushal-
tes hervorgegangen sein. Es handelt sich wahrschein-
lich um eine(n) verheiratete(n) Sohn/Tochter der ersten
Kernfamilie.

17.2. Archäologisches Beispiel b:
Das Haus III von Tall Bderi

Im Ursprungsplan (Phase 11b) bestand das Doppel-
bogenhaus III aus einem einzelnen, großen, multifunk-
tionalen Wohnraum (s. Kap. 13.3; Taf. 6), der von einer
Kernfamilie bewohnt gewesen sein könnte (Abb. 117).

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