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Pfälzner, Peter
Haus und Haushalt: Wohnformen des dritten Jahrtausends vor Christus in Nordmesopotamien — Mainz am Rhein, 2001

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https://doi.org/10.11588/diglit.29472#0416

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Kapitel 18. Familienformen und Haushaltsgrößen der
nordmesopotamischen Gesellschaft des 3. Jtsds. v. Chr.

18.1. Kernfamilie versus erweiterte
Familie

Die Existenz von Kernfamilien (Nuclear Families) und
erweiterten Familien (Extended Families) und insbeson-
dere deren mengenmäßiges Verhältnis zueinander ist
ausgehend von altorientalischen Textquellen aus dem
südlichen Mesopotamien häufig noch kontrovers disku-
tiert worden (Diakonoff 1996; Stone 1996; Kalla 1996;
Dosch 1996; Waetzoldt 1996). Auf der Basis der in
Teil IV dieses Buches beschriebenen archäologischen
Analysen läßt sich zusammenfassend folgende Aussage
zu den Familienformen des 3. Jtsds. v. Chr. in Nord-
mesopotamien treffen:

Die nordmesopotamische Gesellschaft des 3. Jtsds.
kannte zwei vorrangige Familienformen: die Kern-
familie und die erweiterte Familie. Polygame Familien
waren offensichtlich vorhanden, scheinen aber eine un-
bedeutende Rolle gespielt zu haben.

Kernfamilien und erweiterte Familien verkörpern keine
sich gegenüberstehenden Prinzipien innerhalb der nord-
mesopotamischen Gesellschaft. Es handelt sich um zwei
Zustände, die prinzipiell im Entwicklungszyklus aller
Haushalte in unterschiedlichen Stadien und möglicher-
weise sogar zyklisch herausgebildet werden konnten.
Aus diesem Grund waren die einzelnen Hauskonzepte
(s. Kap. 14) nicht mit spezifischen Familienformen ge-
koppelt. Nur die Hausformen und die daran feststell-
baren Veränderungen können als Indikator für die je-
weilige Familienform gelten.

Im allgemeinen waren die Häuser ursprünglich von
einer Kernfamilie bewohnt. Darauf verweist die bei
allen Hauskonzepten festzustellende Ausrichtung des
Hauses auf einen einzelnen, eventuell von Nebenräu-
men umgebenen Kernraum. Im Fauf des Entwicklungs-
zyklus können sich aus den ursprünglichen Kernfamilien
erweiterte Familien entwickelt haben. Dies ist vor allem
in Häusern mit einer ausreichend großen Grundstücks-
fläche zu erwarten, die Platz für die Errichtung neuer
Räume oder die Unterteilung in verschiedene funktio-
nale Einheiten bot. In vielen Fällen läßt sich die Frag-
mentierung erweiterter Familien beobachten. Dies wurde
in erster Finie durch die vor allem in dicht bebauten
Siedlungen fehlenden Möglichkeiten zur horizontalen
Ausdehnung der Wohnfläche und durch einen sozial
niedrigen Status der Haushalte verursacht.

Die beobachteten Prinzipien decken sich mit soziolo-
gischen Theorien zu Entwicklung von Familienformen.
Vor allem Laslett (1972 b) trat der verbreiteten Vorstel-
lung entgegen, die Kernfamilie (bzw. Kleinfamilie) sei
ein typisches Produkt der westlichen Industriegesell-
schaft (vgl. Haviland 1987, 217 f.), während die erwei-
terte Familie (bzw. Großfamilie) die übliche Familien-
form der vor-industrialisierten Welt sei. Er konnte durch
historisch-demographische Untersuchungen nachwei-
sen, daß zum Beispiel auch im vor- industriellen Eng-
land Kernfamilien und erweiterte Familien nebenein-
ander bestanden (ebenda). Auch für ältere Perioden ist
eine entsprechende Situation anzunehmen. Ein evolutio-
nistischer Standpunkt, der davon ausgeht, daß die Kern-
familien sozialgeschichtlich eine jüngere Weiterentwick-
lung von erweiterten Familien seien, ist aus diesem
Grund abzulehnen (Laslett 1972 a, 73; Goody 1972,
119). Kulturvergleichende soziologische Untersuchun-
gen zeigen, daß in Bevölkerungsgruppen, die nicht oder
nur in geringem Umfang über Land, Viehbestand oder
Kapital verfügen und keine anderen Einkommensquel-
len haben, im allgemeinen Kernfamilien oder kleine
Haushaltsgruppen vorherrschen 400). Dies ist selbst dann
festzustellen, wenn in der betreffenden Gesellschaft der
erweiterte Familienverband dem kulturellen Ideal ent-
spricht (Netting 1982, 649 ff. 657).

18.2. Die Zahl der Hausbewohner

Auf Grund der theoretischen Ausführungen (s. Kap.
4.4: Konzept 4) ist als durchschnittliche, kulturunab-
hängige Größe von alleine wohnenden Kernfamilien
eine Zahl von 5-6 Personen und von Kernfamilien, die
innerhalb einer erweiterten Familie leben, eine Zahl von
4-5 Personen zu veranschlagen. Bei Einzelraum-, Kup-
pel-, Bogen-, Doppelbogen- und Parzellenhäusern, d. h.
bei allen Hauskonzepten, die aus einem einzelnen Kern-
raum und einer beliebigen Anzahl von funktional ab-

400) Eine positive Korrelation von reichen Haushalten und erweiter-
ten Familien ist auch im ethnographischen Beispiel Aliabad/Iran be-
legt (s. Kap. 4.3.).

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