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Pfälzner, Peter
Haus und Haushalt: Wohnformen des dritten Jahrtausends vor Christus in Nordmesopotamien — Mainz am Rhein, 2001

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https://doi.org/10.11588/diglit.29472#0118

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7.2. Kennzeichen und
ökonomische Hintergründe für
temporäre Abwesenheit

Es ist auffällig, daß in heutiger Zeit in Nordostsyrien
viele Räume und Häuser verlassen und zugesetzt sind.
Aus diesem Grund wurde 1992 eine kurze ethnoarchäo-
logische Untersuchung vorgenommen S4), die unter der
Fragestellung stand, unter welchen Umständen die Häu-
ser verlassen werden. Es werden zwei unterschiedliche
Beispiele näher betrachtet.

Fall 1:

Die Beobachtungen wurden im Dorf Hatünlye am
gleichnamigen See nahe der syrisch-irakischen Grenze
gemacht (Distrikt al-Hol/Provinz Hassaka). Der Ort
liegt ca. 40 km östlich von Hassaka und 30 km östlich
von Tall Bderi. Es handelt sich um ein altes Dorf, das
nach lokaler Überlieferung mindestens seit 7 Genera-
tionen (ca. 200 Jahren) an dieser Stelle besteht 55). Eine
mittlerweile verfallene, aber noch in Resten erkennbare
Befestigungsmauer um das Dorf hat nach Aussage der
Bewohner schon vor der Ansiedlung der jetzigen Bevöl-
kerung bestanden.

Bei Rundgängen durch das Dorf fiel auf, daß unge-
fähr die Hälfte der Häuser zu diesem Zeitpunkt (Sep-
tember 1992) nicht bewohnt war. Die Türen waren ver-
riegelt und die Fenster blockiert oder zugesetzt. Die an-
wesenden Familien im Dorf wurden nach dem Verbleib
dieser Haushalte befragt. Es wurde erkennbar, daß meh-
rere Varianten von temporärer Abwesenheit vorliegen.

HAUSHALT A: Familie Mohammed Hussen:

Es handelt sich um ein relativ großes, vierräumiges
Haus, das völlig unbewohnt war, die Türen waren ver-
schlossen, die Fenster zum Teil zugesetzt (Abb. 50). In
einem der abgeschlossenen Räume befand sich ein um-
fangreiches «Inventar». Hier waren Haushaltsgegen-
stände (Kisten, Wasserfässer, Geräte, Waschmaschine)
abgestellt, die offensichtlich aus allen Bereichen des
Hauses in diesen Raum gebracht worden waren. In
einem zweiten Raum, mit getrenntem Zugang, wurden
Gerstenvorräte eines Nachbarn gelagert. Die beiden
übrigen Räume waren mehr oder weniger leer.

Die gesamte Familie war in die nördliche Gazira ge-
gangen, um dort saisonal auf Feldern, die sich in Fami-
lienbesitz befinden, zu arbeiten. Wegen verlängerter
externer Beschäftigungsmöglichkeiten 56) hält sich die
Familie nur noch ein bis zwei Monate im Jahr in ihrem
eigenen Haus auf. Wenn die Baumwollernte im Norden
zu Ende ist (Mitte November), werden sie im Dorf zu-
rückerwartet. Anschließend werden sie zur Bewässe-
rung und Ernte der Getreidefelder erneut in die nörd-

liche Gazlra ziehen. Die Familie ist zur temporären Ab-
wesenheit gezwungen, weil ihr Feldbesitz weit entfernt
von ihrem Wohnort liegt.

HAUSHALT B:

Dieses Haus ist temporär verlassen, weil sich die ge-
samte Familie als Landarbeiter bei einem Großgrund-
besitzer in der nördlichen Gazlre verdingt. Die Familie
ist zur saisonalen Erwerbstätigkeit als Landarbeiter an
anderen Orten gezwungen, weil sie weder in ihrem
Wohnort Hatünlye noch an anderer Stelle eigenes Land
besitzt.

HAUSHALT C:

Dieses Haus war zum Zeitpunkt der Untersuchung be-
wohnt. Es handelt sich um eine arme Familie, die ein
kleines Stück Land im Umkreis von Hatünlye besitzt.
Sie bauen dort Gerste an, aber nur in Regenfeldbau, da
sie keine Mittel zu künstlicher Bewässerung besitzen.
Wenn der Regen ausbleibt, sind sie zu saisonaler Arbeit
auf Feldern von Großgrundbesitzern entweder in der
Nähe des Dorfes oder in der nördlichen Gazlra gezwun-
gen. Dieser Haushalt ist also potentiell zu unregelmäßi-
ger, temporärer Abwesenheit genötigt, obwohl er eige-
nes Land am Wohnort besitzt.

HAUSHALT D:

Dieser Haushalt besitzt - ähnlich wie Haushalt C - ein
wenig Land im Umkreis des Dorfes, verfügt aber nicht
über die Mittel, künstliche Bewässerung zu betreiben.
Deshalb wird auf den Feldern Gerste ausgesät und auf
genügend Regen gehofft. Der Haushalt D zieht aber
prinzipiell zusätzlich in die nördliche Gazlra, um dort
als Landarbeiter Beschäftigung zu finden. Dies erfolgt
zur Sicherheit, falls die Ernte auf den eigenen Feldern
wegen mangelnder Niederschläge ausbleiben sollte.

HAUSHALT E: Familie Jusuf al-Gum cä
Dieser Haushalt ist einer der wohlhabendsten in
Hatünlye. Er besitzt eigene Felder am Ort und kann
die Mittel zu künstlicher Bewässerung aufbringen. Es
konnte sogar eine eigene Motorpumpe angeschafft wer-
den, um Wasser aus dem Hatünlye-See auf die Felder zu
pumpen, auf denen Gerste, Weizen und Baumwolle an-
gebaut wird. Zusätzlich besitzt die Familie 4-5 Schafe.
Diese Familie verbleibt ständig an ihrem Wohnort.

54) Teilnehmer waren Serqi al-Hussen und P. Pfälzner.

55) Wie die Erwähnung von Hatünlye in osmanischen Steuerlisten
des 16. Jhdts. belegt, war der Ort schon zu dieser Zeit ein Marktflek-
ken im Distrikt Singär (Hütteroth 1990, 182).

56) Durch die Anlage von Brunnen und den Betrieb von Motorpum-
pen in der nördlichen Gazlra sind in jüngster Zeit die jährlichen An-
bauperioden merklich verlängert worden.

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