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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 7.1903-1904

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Heft 4
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Bosshart, Jakob: Wenn's lenzt, [4]: eine Erzählung aus den Schweizer Bergen
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https://doi.org/10.11588/diglit.19303#0203

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Heim hinaus zu weit gewesen war. Wo der Zug
sich mit dem Wege bog, blicktcn manche zurück,
musterten das , dunkle Land, das sich zwischen den
Wiesen und Äckern und blühenden Apfelbäumen
hinzog, und schüttelten den Aops, denn es waren
große Lücken in den Reihen entstanden: einige
Weiber watschelten beständig zehn oder zwanzig
Zchritte hinterdrein und murrten über das junge
Volk, das nicht wisse, was sür eine Tangart sich
sür ein Begräbnis schicke. Die anderen, die an
dieser Unordnung unschuldig zu sein glaubten,
deuteten mit einer Bewegung des Äopfes auf die
zerrissenen Reihen und raunten sich zu: „'s muß
bald wieder eins den Weg, wem mag's diesmal
gelten? B'hüt uns Eott." Denn man glaubt aus
den Höfen, der Cod weile bei einer Leiche, bis sie
bestattet sei, und solge dem Leichenzug bis ans
8rab. Lntstehen in diesem Lücken, so nehme er
die Selegenheit wahr, dränge sich zwischen die
Reihen hinein, und wem er da zur Beite trete, dem
möge Tott gnädig sein.

Ronrad schritt vorn. Aus der rechten Zchulter
trug er einen Arm der Bahre. Wenn er vom
Wege aufsah, fiel sein Blick auf Rosine, die mit
gesenktem Aopf sast sinnig vorausschritt. llnter
der Last seines toten Bräutchens, von dessen blasser
Wange die seinige nur durch ein Brett getrennt war,
und an den Hersen des lebenden kämpfte er seinen
mühsamen llampf weiter. Der Eang ins llirch-
dorf schien ihm ein Eang in die Lwigkeit, länger,
länger als all das Leben, das er bis jetzt durch-
schritten hatte, und bitter, o, bitter! Das Bräutchen
auf der Achsel, es drückte ihn nicht, wie hätte sie
drücken können, die sanste, gute Pauline? Aber ihn
drückte das Sewissen, auf ihm lag wie ein Berg
die Lrinnerung an die letzte Racht.

Und der weg, auf dem er ging: wo der Blick
sich seitwärts wendete, links, rechts, überall tras
er auf einen ßleck, der an die Iugendjahre gemahnte,
an dic Zeiten, da er mit Pauline zur llirche oder
zur llnterweisung oder zum Canz ging: hier der
llirschbaum, mit dessen ßrüchten sie sich im Lommer,
ohnc lang zu sragen, die trocknen Zungen letzten,
dort am'Bach die Buche, in deren Rinde, sreilich
weit auseinandcr, ein Iv und ein ? mit ungeschickter
k)and cingcschnitten waren. Ietzt wußtc er, warum
das ? jedcn Frühling, wenn der Iast in den
Bäumcn sticg, seucht wurde und zu weincn anfing.
— Aus der sumpfigcn Wiese, jetzt im 8>ras ver-
stcckt, lag des Hubbauers „Roos", wo sich das
Wädchcn dcn Cod geholt hatte, und nun schlich der
Lcichenzug an der Halde hinunter, an deren Huß,
an der llirchweih, sich ihr das herbe Wort „sterben"
aus dcr erschöpften Brust herausgerungen hatte. ...

Was hatte er ihr damals gesagt? „V, ich
Llender, ich Llcnder!" Wie manchmal wünschte er
auf dicsem martervollcn Hange, an ihrer Ltelle zu
sein; aber wcnn dann sein Äuge, ohne Befehl er-
haltcn zu haben, auf die Eestalt siel, die vor^ihm
wandclte, da schlich sich die Liebe neben den Cod,
und schüchtcrn zwar, abcr unabweislich, berührte

sie ihm den Nund, und es war wie Rosinens
Nund in der vergangenen Nacht, und dann fuhr
mitten durch seine Äual ein Sunke, ein Ausslackern
der sich durchringenden Liebeswonne, wie ein
Zonnenstrahl durch eine Wetterwolke. llnd wie
der Zonnenstrahl auf den dunkeln Wolkengrund
den leuchtenden, sarbigen Bogen wirst, so der
Liebessunke in llonrads umnachteter Brust die
schillernde Ahnung versähnlichen Tlückes.

„verzeih mir, verzeihe mir, Pauline! Liehe,
es ist stärker als ich!"

Änten im Dorfe, auf dem ßriedhose, stellte man
die Bahre neben das Trab. Dann öffnete man
den Zargdeckel, und wer die Tote noch einmal
sehen wollte, näherte sich und wars einen Llick in
den schwarzen Lchrein und aus das stille, blasse
Eesicht.

Aus dem langen Wege hatte sich llonrad oft
gesagt: „Du darfst ihr nicht einmal einen letzten
Blick ins Erab geben, du Richtswürdiger!" Ietzt
aber, am Rande des gähnenden Erabes, an der
düsteren Pforte der Lwigkcit, wurde es ihm leichter
und es schien ihm, sein Herz habe sich wieder ganz
seiner Iugendliebe zugewendet und des andern
Wädchens Bild sei aus seiner Brust geflohen. Lr
wollte vor Paulinen hintreten und ihr bedeuten:
„Ich bin wieder zurück!" von ihm sollte sie den
letzten Lrdenblick empfangen, von ihrer einzigen
Liebe den Lcheidegruß.

Der llellerjakob und sein Aüsi waren in die
llirche gewankt, von den verwandten sachte hinweg-
geschoben, und alles volk war ihnen nach und nach
gesolgt. llonrad war, wie er sich vorgenommen,
der letzte, der in den Larg schaute, und er konnte
den Blick von den treuen Zügen nicht abwenden.
Vor ihm, einige Lchritte entsernt, stand Rosine,
denn sie mußte das „Lchäppeli" während des
Sottesdienstes hüten, es vor dem „Ausläuten" aus
das frische Srab pflanzen und aus die braune
Lrde ringsum das verhüllende Erün der Larg-
kränze wersen.

Zie sah llonrad an, wie seine Blicke mit Weh-
mut zu der Toten herabschauten und wie er die
Lippen zwischen die Zähne klemmte und sie ihm
zuckten. Wahrhastig, er rang mit den Tränen!

Da ging Rosine ein Licht auf, und eine schmerz-
liche Sewißheit kam über sie. Lie begriff aus
einen Lchlag, warum er am Abend vorher nicht
singen und nicht tanzen wollte, warum er seine
„Nusik" nicht in der Casche trug. „V, ich habe
nicht gut au ihm gehandelt."

Zugleich sühlte sie, daß er ihr noch nicht von
Herzen gehöre, und da erst ward ihr klar, wie
unsäglich lieb sie ihn hatte. Der Sedanke, den
wieder verlieren zu müssen, den sie so wenige
Augenblicke besessen, machte sie namenlos elend;
aber sie gewann über sich einen Lieg, der ihr
vielleicht nur im Angesichte des Codes gelinqen
konnte: sie trat vor den Seliebten hin und
mit leiser, zitternder Ltimme sagte sie zu ihm:
„llonrad, ich gebe dir dein wort zurück. Werd
 
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