Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

DOI Heft:
Heft 1/2
DOI Artikel:
Herrigel, Hermann: Der deutsche Weltberuf
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0033

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Aus Büch-rn von Alfoni Paquet.

traten in eine Wirtschaft und tranken davon eine Weiße.
Ein Gefühl von Schwermut überkam mich, als wir in
diescr Wirlschaft die rötlichen, vom Bier geschwollenen,
viereckigen Gesichter der Handwerker und der Kutscher
sahen.

Erst nach elf Uhr kamen wir an unserem Aiele an.
Von dem Kasernengebäude stand nur ein Flügel noch
da mit seinen langen Reihen offener Fenster. Die
Laternen waren ausgelöscht. Jn den zerbrochenen Schei-
ben glitzerte das Mondlicht geistcrhaft. Das Haupt-
gebäude war schon niedergebrochen bis auf wenige
Mauern. Das Ganze, von schmalen, dunklen, unbelebten
Gassen umgeben, lag da wie ein ungeheurer verwesender
Koloß. Man hörte aber aus der Nähe das Geklingel
und Rollen der Straßenbahnwagen.

Der Kleine sührte uns an einem Bretterzaun ent-
lang bis zu einer Stelle, wo >ein lockeres Stück Holz
quer über ciner schmalen Offnung hing, gerade so, daß
ein Menschenkörper sich noch hindurchwinden konnte.
Hier versprachen wir einander, uns nicht zu verlassen,
was auch kommen möge. Dann bückte sich der Kleine
und verschwand. Jch folgte ihm, und der Kohlenmann
kroch hinterher.

Wir besanden uns im Kasernenhof. Vor uns standen
in Richtung wie vergessene Soldaten vier kleine Bäume.
Rechts lag ein Schuppen, vielleicht der ehemalige Holz-
stall. Eine Stiege führte von außen unter das Dach.
Wir kletterten hinauf. Oben zündete der Kleine ein
Streichholz an und leuchtete umher. Der Boden lag
voll verfaultem Stroh. Es stank so sehr, daß wir be-
schlossen, wieder in den Hof hinunterzusteigen.

Jm Untergeschoß der Kascrne stand ein Fenster offen.
Der Kleine schwang sich hinauf und half uns nach;
wir standen nun alle drei in dem öden Flur vor einer
breiten Treppe mit eisernem Geländer. Rechts fanden
wir einen Raum offcn, der früher eine Küche gewesen
sein mochte; in dcr Ecke stand ein halb zerstörter Herd.
Die andere Tür dieser Stube war geschlossen, und die
Klinke fehlte. Unsere Tür wollte durchaus nicht ins
Schloß; wir stemmten uns dagegen und schlugen endlich
mit Steinen, die wir aus dem Herde lösten, den Riegel
zu. Dann klemmten wir noch Holzstücke in das Schloß
und streckten uns nebeneinander auf dem Boden aus,
mit den Köpfen gegen die Tür. Wir drängten uns eng
zusammen, die Nachtluft sank durch die offenen Fenster
kalt herein.

Die andcrn schienen bald zu schlafen. Nur ich lag
wach in einem unsäglichen Gefühl der Verlassenheit
auf dem harten, von Mörtel und Iiegelsteinsplittern
bedeckten Boden. Die Leiber der beiden unbekannten
Menschen schützten mich nur wenig gegen die Kälte; ich
verspürte plötzlich ein Zittern, ganz leise und nach innen
gehend, wie das Aittern, das dieses scste Gebäude er-
griffen hatte, als langsam der Putz von den Wänden
abfiel und die Decken lautlos sprangen, bis es nun,
von den Menschen aufgegeben, in der dunklen Nacht
sich selbst überlassen dastand. Der Mond und die Straßen-
lichter warfen gespenstische Flecke an die Wand. Au-
weilen rasselte draußen eine Droschke vorüber. Unfern
schnauften die Stadtbahnzüge; wenn sie in die gewölbte
Halle einliefen, brach ein Donner aus. Jch sah einen

dieser Aüge fahren, fern, auf einer unendlich weiten
grünen Ebene, und ihn plötzlich um einen Hügel biegen.
Dort über einen Fluß führte eine Brücke, dürr wie ein
Skelett und ohne Geländer; auf ihr ging ein Mann
mit Medaillen auf der Brust. Er hatte das Gesicht des
alten Herrschaftsdieners, der mir im Asyl das Auf-
bewahren der Stiefel gezeigt und von Amerika erzählt
hatte. Der Zug kam rasch, der Mann auf dem Brücken-
gleis, mit dem Strom tics unter dem Gestänge des
Brückenbodens, begann erschreckt zu laufen, er rannte
wie ein Besessener. Jn dcm Augenblick als die Maschine
ihn fassen wollte, ließ er sich durch die Brücke hinunter-
fallen. Er fiel tief unten auf den Sand am Ufer, und
als er aufstand, griff er an seinen Kopf und taumelte
und lachte über das Blut an seiner Hand. Nun ver-
wandelte er sich in einen andern Menschen, der dort
im Asyl den Namen Naturdoktor hatte, einen dicken Kerl
mit Schmissen auf der Backe und einem Kneifer auf der
Nase. Er trug in einem Futteral aus Pappe ein dickes
Buch über die Naturheilmethode unterm Arm, das er
nachts als Kopfkissen benutzte. Mit ihm erschien Rein-
hold, ein blasser Narr, der den Leuten sür Zigaretten
das Hemd, die Weste oder die Hosenträger abzukaufen
pflegte. Er stand plötzlich neben mir und flüsterte mir
ins Ohr, er habe gestern mit einem Kollegen von einem
Neubau ein bleiernes Rohr gestohlcn, cin schweres Ding,
dic Schultern seien ihm noch rot und blau davon. Das
hätten sie gemeinsam versteckt. Nun brauche bloß einer
hinzugehen und jenem Mann zu sagen, er habe gesehen,
wie das Rohr gestohlen worden sei, dann werde er Angst
bekommen und das Bleirohr hergeben, und der andere
könne es forttragen und für fünf Groschen verkaufen.
Das sei eine sehr einfache Sache. Er werde mir dieWoh-
nung des Kollegen nennen, aber ich müsse ihm etwas
dafür geben, vielleicht den Kragen.

Jch wachte auf, mich fror am Halse. Jch hatte meine
Jacke als Kissen unterm Kopf liegen, neben mir rechts
und links lagen die bciden Leute und schliefen. So wagte
ich nicht mich zu rühren und schlief mit diesem Frostgefühl
wieder ein. Jch sah den Herrschaftsdiener, den Natur-
doktor und Reinhold miteinander gehen, und mich in
weiter Entfernung ihnen folgen. Sie schienen zu schweben
wie selige Meister, gegen alle Angst gefeit, und zu denen
ich in banger Verzweiflung aufsah wie ein Lehrling
des Lebens. Jch seufzte und lag mit geschlossenen Augen
und muß dann wohl einige Aeit ganz fest geschlafen
haben.

Jemand ergriff plötzlich meincn Arm. Jch sah den
Kohlenmann halbaufgerichtet neben mir sitzen. Er
sah starr über mich hinweg und stotterte: ,Du — der
Kleine — der Andere — ist weg^.

Jch verstand ihn nicht gleich, doch erschrak ich sehr,
als ich den Kleincn nicht mehr bei uns sah. Die Türen
waren noch geschlossen, aber das Fenster stand osfen.
Jch wollte aufstehen, aber in demselben Augenblick
machte ein seltsames Geräusch uns erstarren. Jn der
leeren Kaserne, in dem Raum gerade über uns, gingen
leichte, ganz langsame, schlürfende Schritte. Dazwischen
vernahmcn wir ein Hüsteln, einen so klagenden, hohlen,
gebrechlichen Laut, daß wir wie versteinert lagen. Zu-
weilen hielt dieses Röcheln ein. Die gelben Lichtreflere

21
 
Annotationen