Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Ruskin, John
Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 8): Steine von Venedig (Teil 1) — Leipzig, 1903

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3793#0014
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER STEINBRUCH

§ 1. Seit zuerst die Herrschaft des Menschen sich über
das Weltmeer geltend machte, sind drei Reiche von höherer
Bedeutung als alle anderen an seinen Gestaden errichtet
'Worden: die Reiche von Tyrus, Venedig und England. Von
der ersten dieser großen Mächte besteht nur die Erinnerung,
von der zweiten der Verfall; die dritte, die ihre Größe erbt,
kann, wenn sie ihr Beispiel vergisst, durch stolzere Erhö-
hung zu minder beklagtem Untergang geführt werden.

Die Erhebung, die Sünde und die Strafe von Tyrus sind
für uns aufgezeichnet worden in den vielleicht rührendsten
Worten, die die Propheten Israels jemals gegen die Städte
der Fremden äußerten. Aber wir lesen sie wie einen lieb-
lichen Gesang und verschließen unsere Ohren vor dem
Ernst ihrer Warnung; denn gerade die Tiefe des Falles von
Tyrus hat uns blind gemacht gegen seine Thatsächlichkeit
und wir vergessen, wenn wir die bleichen Felsen im Son-
nenschein an der See aufleuchten sehen, dass sie einst
waren „wie in Eden, dem Garten Gottes".

Ihre Nachfolgerin, die ihr in der Vollkommenheit der
Schönheit gleich kam, wenn auch weniger in der Dauer der
Herrschaft, ist uns noch geblieben und wir dürfen sie in
der Schlussphase ihres Niederganges betrachten; ein Ge-
spenst am Gestade der See, so schwach — so still •— so
beraubt alles Besitzes, nur nicht ihrer Lieblichkeit, dass
man im Zweifel sein kann, wenn man ihr mattes Abbild in
der Spiegelung der Lagune erblickt, welches die Stadt und
welches der Schatten ist.
 
Annotationen