Ruskin, John: Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 8): Steine von Venedig (Teil 1) (Leipzig, 1903)

WULST UND VERTIEFUNG

§ 1. Ich habe diese beiden Hilfsmittel architektonischer
Wirkung zusammengestellt, weil in den meisten Fällen das
eine die Verneinung des anderen ist, und grade so ange-
wandt wird, um es zu heben, wie der Schatten das Licht
hebt; Vertiefung und Wulst abwechselnd, nicht nur in seit-
licher, sondern auch in aufeinander folgender Anordnung,
aber eines von dem anderen in seinen eigenen Linien unter-
brochen. Eine Nische an sich hat eigentlich keine Ver-
zierung; aber ihre Tiefe giebt der Dekoration Wert, die sie
begrenzt, umschließt, oder unterbricht, und die beste Form
für die Unterbrechung ist der Wulst.

§ 2. Ich benutze das Wort Wulst ganz allgemein für alle
Profile, die dem Auge als cylindrische Form erscheinen
und wie eine runde Rute aussehen. Wenn sie aufrecht
stehen, sind sie scheinbar, wenn nicht thatsächlich, kleine
Säulen; und sogar eine Art von gebogener Säule, wenn
sie in Archivolten und Maßwerken angewandt werden; —
in horizontaler Lage vermengen sie sich mit Gesimsen und
sind gewöhnlich als die beste Art zu bezeichnen, um
eine architektonische Linie nach irgend einer Richtung zu
ziehen, da die weiche Kurve ihrer Seite beinahe zu jeder
Tageszeit etwas Schatten erhält, und sie machen auf das
Auge einen erfreulicheren und anmutigeren Eindruck, als
weder durch einen Einschnitt oder irgend eine andere Art
von Vorsprung erreicht werden kann.

§ 3. Ihre dekorative Kraft ist jedoch zu gering für präch-
tige Arbeit, und sie müssen oft wie die Ecke oder die Leiste