Ruskin, John: Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 8): Steine von Venedig (Teil 1) (Leipzig, 1903)

DIE TUGENDEN DER ARCHITEKTUR

§ 1. Wir begeben uns zunächst an die Aufgabe, ein
rechtmäßiges Gesetz aufzustellen, das wir bei der Architektur
aller Welt und aller Zeiten anwenden können, und mit
dessen Hilfe wir ebenso leicht beurteilen können, ob ein
Gebäude gut und edel, wie durch die Anwendung eines
Lots, ob es senkrecht ist.

Die erste Frage wird natürlich sein: Was für Tugenden
kann die Architektur überhaupt haben?

In der Hauptsache verlangen wir von Bauwerken, als von
Menschen herstammend, zwei Arten von Tugend: erstens,
dass sie ihre praktische Pflicht erfüllen, und ferner, dass sie
es in anmutiger, gefälliger Form thun, was an sich selbst
auch eine Art von Pflicht ist.

Dann teilt sich die praktische Pflicht in zwei Abzweigun-
8enj — handeln und reden; — handeln, insofern sie uns
v°r Wetter oder Gewaltthätigkeit schützt; reden, als die
Pflicht von Monumenten oder Grabmälern, um an Thaten
Zu erinnern und Gefühle auszudrücken; oder von Kirchen,
Tempeln und öffentlichen Gebäuden, die als Geschichts-
bücher behandelt werden, um solche Geschichte klar und
deutlich zu erzählen.

Wir haben auf diese Weise, alles in allem, drei große
Zweige architektonischer Tugend und verlangen von jedem
Bauwerk:

1. dass es gut handle und die Dinge, die von ihm ver-
langt werden zu thun, auf die beste Art thue;