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Ruskin, John
Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 8): Steine von Venedig (Teil 1) — Leipzig, 1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.3793#0431
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und Kreuzblumen gleich Sternen an den Linien und Spitzen
entlang gesetzt, die sie schmücken, mit beträchtlichen
Zwischenräumen und von ausgesuchter Zartheit und Phan-
tastik in der Skulptur ihrer eigenen Zeichnungen; wenn sie
sehr klein sind, können sie häufiger vorkommen und durch
eine Kette von Punkten Linien beschreiben; aber ihr ganzer
Wert geht verloren, wenn sie zu Büscheln zusammengefaßt,
oder zu Troddeln oder Knoten vereinigt werden; und ein
übermäßiges Frönen darin ist stets ein Kennzeichen von
Niedrigkeit der Schule. In Venedig ist die Hinzufügung der
Kreuzblume an die Bogenhöhe das erste Zeichen von Er-
niedrigung; alle ihre besten Bauwerke sind gänzlich frei von
Krabben oder Kreuzblumen; und ihre kirchliche Architektur
kann mit größter Bestimmtheit für besser oder schlechter,
je nach der Verringerung oder Ausbreitung der Kriechblumen
erklärt werden. Die ganz vollkommene Anwendung der Kriech-
blume findet sich, meiner Ansicht nach, an Giottos Turm
und an einigen anderen Gebäuden der pisaner Schule. Im
Norden sind sie gewöhnlich nach der einen oder anderen
Richtung hin verfehlt, und entweder überladen und kolossal,
oder von ärmlichem Umriss, als ob sie aus dem Steinmauer-
werk herausgequetscht wären, wie durchgehends in der
Kathedrale von Amiens; und außerdem hängen sie mit dem
allgemein bunten System zusammen, von dem schon unter
der Rubrik der Archivolten-Dekoration die Rede war.

§ 10. Gemäßigt angewandt gehören sie jedoch zu den er-
freulichsten Hilfsmitteln zarten Ausdrucks; und der Architekt
hat mehr Freiheit bei ihrer individuellen Behandlung, als bei
irgend einem anderen Gliede des Gebäudes. Von dem kon-
struktiven System gänzlich getrennt, sind sie keiner Spur von
anderen Gesetzen unterworfen, als denen der Grazie und
Keuschheit; und die Phantasie kann, ohne Tadel hervorzu-
rufen, nach dem Material für ihren Entwurf, durch das ganze
Feld der sichtbaren oder denkbaren Schöpfung dahinschweifen.
 
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