Holbein vor Holbein?
Ein problematisches Frühwerk
Die künstlerischen Anfänge Hans Holbeins d. J. - mögen sie bereits in
Augsburg, auf seinem Wanderweg an den Oberrhein oder erst in Basel zu
suchen sein - liegen wie keine andere Schaffensperiode des Malers im
Zwielicht jener »Holbein-Bilder«, ja »Holbein-Mythen«, die Kunstkritik
und Kunstgeschichte in ihrem Bemühen, den Künstler und sein Werk zu
deuten und einzuordnen, seit langem entwickelt haben. Stand im ersten
Teil der vorliegenden Studie der Versuch im Vordergrund, das Bewußt-
sein für die mit diesen »Holbein-Bildern« verbundenen Probleme zu
schärfen und faktische Fehlbeurteilungen zu korrigieren, soll nunmehr
das in den Baseler Jahren zwischen 1515 und 1532 entstandene tafelma-
lerische Werk des jüngeren Holbein in den Blick genommen werden. War
es daher zunächst um Bedingungen und Umstände der Entstehung allzu
bereitwillig akzeptierter Vermutungen und Annahmen über den Maler
und sein Schaffen, vor allem aber um deren kritische Hinterfragung
gegangen, so wollen wir uns nun einer näheren Betrachtung der einzel-
nen Werke und damit zugleich der Rekonstruktion des erhaltenen CEuv-
res zuwenden - nach den »Holbein-Bildern« der Kunstgeschichtsschrei-
bung stehen nun also Hans Holbeins Tafelbilder im Mittelpunkt des
Interesses.
Daß dies nicht ohne den gelegentlichen Rückgriff auf »Holbein-
Mythen« abgehen wird, ja, daß auch dieser Versuch zu Holbeins Gemäl-
den nichts anderes sein kann als eine Fortsetzung der Arbeit am »Hol-
bein-Mythos«, ist dem Autor bewußt. Um so wichtiger erscheint daher
der ebenso unbefangene wie konzentrierte Blick auf die erhaltenen Ein-
zelwerke - die inhaltliche Aussage, die ursprüngliche Funktion, aber auch
der heutige Zustand der Bilder, ihre künstlerische Entstehungsgeschichte
und ihr Verhältnis zur Bildtradition wie zur damals aktuellen Kunstpro-
duktion. Hieraus ergibt sich zwanglos ein chronologisches Vorgehen bei
der nachfolgenden Darstellung der einzelnen Gemälde im weiteren
Werkzusammenhang: Eine solche Diskussion des Materials, die sich
parallel zu dessen mutmaßlicher zeitlicher Entstehung entfaltet,
erscheint um so mehr geboten, als es bekanntlich bis heute nicht gelun-
gen ist, eine Reihe von Hauptwerken aus Holbeins Baseler Jahren defini-
tiv im Gesamtwerk des Künstlers chronologisch zu verankern.'
Die Notwendigkeit zu kritischer Betrachtung betrifft in ganz besonde-
rem Maße das sogenannte Frühwerk des Künstlers.2 Angesichts der
extremen Unterschiedlichkeit der unter dieser Bezeichnung zusammen-
gefaßten Bilder, die sich alle im Baseler Kunstmuseum befinden, würde
vermutlich niemand auf die Idee kommen, sie ein und demselben Künst-
ler zuzuschreiben, gäbe es nicht das Amerbach-Inventar. Aller Unter-
schiede ungeachtet, lassen sich locker zwei Gruppen bilden. Die eine wird
allein durch Basilius Amerbach beglaubigt, der sie mit dem Etikett
»H. Holbeins erste arbeiten« versehen hat. Sie umfaßt mit den beiden
Fragmenten der Heiligenköpfe sowie dem Abendmahl und der Geiße-
lung aus der sogenannten »Leinwand-Passion« Werke, die weder signiert
noch datiert sind und die selbst untereinander nur wenig Gemeinsam-
keiten aufweisen. Die Werke der anderen Gruppe sind datiert - das
Schulmeisterschild auf 1516, der Sündenfall auf das Folgejahr - und sti-
listisch etwas homogener; der Sündenfall trägt zusätzlich das Mono-
gramm »HH«. Betrachten wir zunächst die zweite Bildergruppe.
Die beiden jeweils 55,5x65,5 cm messenden Seiten des Schulmeister-
schildes sind über der Darstellung eines als Schulstube genutzten Wohn-
raums jeweils mit einem fast inhaltsgleichen Werbetext beschriftet: »Wer
jemand hie[r] der gern weit ler(n)nen dütsch schriben • und läsen uß
dem aller/kürzisten grundt den Jeman Erdencken kan[n] do durch ein
Jeder der vor nit ein/bu[o]chstaben kan der mag kürtzlich und bald
begriffen ein grundt do durch er/mag von jm selber ler(n)nen sin schuld
uff schriben und läsen • und wer es/nit gelernnen kan so ungeschickt
were Den will ich um(ra) nüt [nichts] und ver=/geben gele[h]rt haben
und gantz nüt von j[h]m zu[o] Ion nemen er syg */wer er well • burger
Ouch Handtwerckß gesellen frowen und ju=/nckfrouwen • wer sin
bedarff • Der Kum(m) har jn • der wirt drüwlich/gelert um(m) ein
zi(e)mlichen Ion • Aber die Jungen Knaben und meit=/lin noch den
fronvasten wie gewonheyt jst • Anno • m ccccc xvi '«3
Die diesen Text jeweils begleitenden Bilder sind in Komposition wie
Detailgestaltung durchaus unterschiedlich. Während die Darstellung der
Kinderschule (Tafel 16) fast symmetrisch aufgebaut ist und die Schreib-
pulte des Lehrers und seiner Frau, die sich jeweils um ein Schulkind
bemühen, links und rechts am Bildrand angeordnet sind, die Bildmitte
hingegen mit einer niedrigen Bank mit zwei weiteren Kindern vor der
durchfensterten Rückwand des Raumes weitgehend offengelassen wird,
steht in der Gesellenschule ( Tafel 17) der Tisch mit dem Lehrer und zwei
Lernwilligen fortgeschrittenen Alters im Mittelpunkt der Komposition.
Nicht nur die beiden modisch gekleideten Burschen, denen es offenkun-
dig schwerfällt, sich auf das Lernen zu konzentrieren oder auch nur ruhig
zu sitzen, vermitteln bei dieser Darstellung den Eindruck von besonderer
Bewegung und Dynamik. Hierzu trägt auch die perspektivische Gestal-
tung des Raumes bei (man beachte die in Verkürzung gegebene Seiten-
wand rechts mit der riesigen Tür) sowie die analoge Ausrichtung von
Licht und Schatten, die durch die rückwärtigen Fenster verursacht wird.
Dynamisch ist schließlich auch das Verhältnis der Figuren zu dem ihnen
zugewiesenen Raum, der sehr viel weniger tief ist als auf der Gegenseite
mit der Kinderschule - die beiden Gesellen und ihr Lehrer sind nicht nur
größer als die dortigen Figuren von Lehrer und Lehrerin, sie beanspru-
chen auch so viel mehr Platz innerhalb ihres eigenen Bildfeldes, daß die-
ses entgegen der anfänglichen Planung nachträglich sogar vergrößert
worden ist: Die horizontale Ritzlinie knapp oberhalb des Kopfes des Leh-
rers entspricht dem unteren Abschluß des Inschriftfeldes auf der Kinder-
schule. Die Entscheidung, das Bildfeld der Gesellenschule zu vergrößern,
muß aber bereits getroffen worden sein, bevor die Ausführung der
Inschrift selbst in Angriff genommen wurde, denn auch die ausgeführten
zehn Inschriftzeilen sind mit ihren Ober- und Unterlängen vorgeritzt.
Obgleich diese Ritzungen dem vergrößerten Bildfeld bereits Rechnung
tragen, fällt die sehr ungleiche Schriftgröße der einzelnen Zeilen der
Inschrift ins Auge.
Ein Jahr nach dem Schulmeisterschild entstand die halbfigurige Dar-
stellung des Sündenfalls (Tafel 18), die auf einem 30x35,5 cm großen, auf
Holz aufgezogenen Papierbogen gemalt4 und zwischen den Köpten von
Adam und Eva am oberen Bildrand mit »1517 HH« bezeichnet ist. Vor
schwarzem Hintergrund erscheinen die Büsten der Stammeltern. Eva
100 Holbeins Gemälde. Der Künstler als Tafelmaler in Basel, 1515-32
Ein problematisches Frühwerk
Die künstlerischen Anfänge Hans Holbeins d. J. - mögen sie bereits in
Augsburg, auf seinem Wanderweg an den Oberrhein oder erst in Basel zu
suchen sein - liegen wie keine andere Schaffensperiode des Malers im
Zwielicht jener »Holbein-Bilder«, ja »Holbein-Mythen«, die Kunstkritik
und Kunstgeschichte in ihrem Bemühen, den Künstler und sein Werk zu
deuten und einzuordnen, seit langem entwickelt haben. Stand im ersten
Teil der vorliegenden Studie der Versuch im Vordergrund, das Bewußt-
sein für die mit diesen »Holbein-Bildern« verbundenen Probleme zu
schärfen und faktische Fehlbeurteilungen zu korrigieren, soll nunmehr
das in den Baseler Jahren zwischen 1515 und 1532 entstandene tafelma-
lerische Werk des jüngeren Holbein in den Blick genommen werden. War
es daher zunächst um Bedingungen und Umstände der Entstehung allzu
bereitwillig akzeptierter Vermutungen und Annahmen über den Maler
und sein Schaffen, vor allem aber um deren kritische Hinterfragung
gegangen, so wollen wir uns nun einer näheren Betrachtung der einzel-
nen Werke und damit zugleich der Rekonstruktion des erhaltenen CEuv-
res zuwenden - nach den »Holbein-Bildern« der Kunstgeschichtsschrei-
bung stehen nun also Hans Holbeins Tafelbilder im Mittelpunkt des
Interesses.
Daß dies nicht ohne den gelegentlichen Rückgriff auf »Holbein-
Mythen« abgehen wird, ja, daß auch dieser Versuch zu Holbeins Gemäl-
den nichts anderes sein kann als eine Fortsetzung der Arbeit am »Hol-
bein-Mythos«, ist dem Autor bewußt. Um so wichtiger erscheint daher
der ebenso unbefangene wie konzentrierte Blick auf die erhaltenen Ein-
zelwerke - die inhaltliche Aussage, die ursprüngliche Funktion, aber auch
der heutige Zustand der Bilder, ihre künstlerische Entstehungsgeschichte
und ihr Verhältnis zur Bildtradition wie zur damals aktuellen Kunstpro-
duktion. Hieraus ergibt sich zwanglos ein chronologisches Vorgehen bei
der nachfolgenden Darstellung der einzelnen Gemälde im weiteren
Werkzusammenhang: Eine solche Diskussion des Materials, die sich
parallel zu dessen mutmaßlicher zeitlicher Entstehung entfaltet,
erscheint um so mehr geboten, als es bekanntlich bis heute nicht gelun-
gen ist, eine Reihe von Hauptwerken aus Holbeins Baseler Jahren defini-
tiv im Gesamtwerk des Künstlers chronologisch zu verankern.'
Die Notwendigkeit zu kritischer Betrachtung betrifft in ganz besonde-
rem Maße das sogenannte Frühwerk des Künstlers.2 Angesichts der
extremen Unterschiedlichkeit der unter dieser Bezeichnung zusammen-
gefaßten Bilder, die sich alle im Baseler Kunstmuseum befinden, würde
vermutlich niemand auf die Idee kommen, sie ein und demselben Künst-
ler zuzuschreiben, gäbe es nicht das Amerbach-Inventar. Aller Unter-
schiede ungeachtet, lassen sich locker zwei Gruppen bilden. Die eine wird
allein durch Basilius Amerbach beglaubigt, der sie mit dem Etikett
»H. Holbeins erste arbeiten« versehen hat. Sie umfaßt mit den beiden
Fragmenten der Heiligenköpfe sowie dem Abendmahl und der Geiße-
lung aus der sogenannten »Leinwand-Passion« Werke, die weder signiert
noch datiert sind und die selbst untereinander nur wenig Gemeinsam-
keiten aufweisen. Die Werke der anderen Gruppe sind datiert - das
Schulmeisterschild auf 1516, der Sündenfall auf das Folgejahr - und sti-
listisch etwas homogener; der Sündenfall trägt zusätzlich das Mono-
gramm »HH«. Betrachten wir zunächst die zweite Bildergruppe.
Die beiden jeweils 55,5x65,5 cm messenden Seiten des Schulmeister-
schildes sind über der Darstellung eines als Schulstube genutzten Wohn-
raums jeweils mit einem fast inhaltsgleichen Werbetext beschriftet: »Wer
jemand hie[r] der gern weit ler(n)nen dütsch schriben • und läsen uß
dem aller/kürzisten grundt den Jeman Erdencken kan[n] do durch ein
Jeder der vor nit ein/bu[o]chstaben kan der mag kürtzlich und bald
begriffen ein grundt do durch er/mag von jm selber ler(n)nen sin schuld
uff schriben und läsen • und wer es/nit gelernnen kan so ungeschickt
were Den will ich um(ra) nüt [nichts] und ver=/geben gele[h]rt haben
und gantz nüt von j[h]m zu[o] Ion nemen er syg */wer er well • burger
Ouch Handtwerckß gesellen frowen und ju=/nckfrouwen • wer sin
bedarff • Der Kum(m) har jn • der wirt drüwlich/gelert um(m) ein
zi(e)mlichen Ion • Aber die Jungen Knaben und meit=/lin noch den
fronvasten wie gewonheyt jst • Anno • m ccccc xvi '«3
Die diesen Text jeweils begleitenden Bilder sind in Komposition wie
Detailgestaltung durchaus unterschiedlich. Während die Darstellung der
Kinderschule (Tafel 16) fast symmetrisch aufgebaut ist und die Schreib-
pulte des Lehrers und seiner Frau, die sich jeweils um ein Schulkind
bemühen, links und rechts am Bildrand angeordnet sind, die Bildmitte
hingegen mit einer niedrigen Bank mit zwei weiteren Kindern vor der
durchfensterten Rückwand des Raumes weitgehend offengelassen wird,
steht in der Gesellenschule ( Tafel 17) der Tisch mit dem Lehrer und zwei
Lernwilligen fortgeschrittenen Alters im Mittelpunkt der Komposition.
Nicht nur die beiden modisch gekleideten Burschen, denen es offenkun-
dig schwerfällt, sich auf das Lernen zu konzentrieren oder auch nur ruhig
zu sitzen, vermitteln bei dieser Darstellung den Eindruck von besonderer
Bewegung und Dynamik. Hierzu trägt auch die perspektivische Gestal-
tung des Raumes bei (man beachte die in Verkürzung gegebene Seiten-
wand rechts mit der riesigen Tür) sowie die analoge Ausrichtung von
Licht und Schatten, die durch die rückwärtigen Fenster verursacht wird.
Dynamisch ist schließlich auch das Verhältnis der Figuren zu dem ihnen
zugewiesenen Raum, der sehr viel weniger tief ist als auf der Gegenseite
mit der Kinderschule - die beiden Gesellen und ihr Lehrer sind nicht nur
größer als die dortigen Figuren von Lehrer und Lehrerin, sie beanspru-
chen auch so viel mehr Platz innerhalb ihres eigenen Bildfeldes, daß die-
ses entgegen der anfänglichen Planung nachträglich sogar vergrößert
worden ist: Die horizontale Ritzlinie knapp oberhalb des Kopfes des Leh-
rers entspricht dem unteren Abschluß des Inschriftfeldes auf der Kinder-
schule. Die Entscheidung, das Bildfeld der Gesellenschule zu vergrößern,
muß aber bereits getroffen worden sein, bevor die Ausführung der
Inschrift selbst in Angriff genommen wurde, denn auch die ausgeführten
zehn Inschriftzeilen sind mit ihren Ober- und Unterlängen vorgeritzt.
Obgleich diese Ritzungen dem vergrößerten Bildfeld bereits Rechnung
tragen, fällt die sehr ungleiche Schriftgröße der einzelnen Zeilen der
Inschrift ins Auge.
Ein Jahr nach dem Schulmeisterschild entstand die halbfigurige Dar-
stellung des Sündenfalls (Tafel 18), die auf einem 30x35,5 cm großen, auf
Holz aufgezogenen Papierbogen gemalt4 und zwischen den Köpten von
Adam und Eva am oberen Bildrand mit »1517 HH« bezeichnet ist. Vor
schwarzem Hintergrund erscheinen die Büsten der Stammeltern. Eva
100 Holbeins Gemälde. Der Künstler als Tafelmaler in Basel, 1515-32