»Hy is in Italien niet gheweest«
Der junge Holbein und Italien
Zu den ehernen Mythen um Hans Holbein d. J. zählt seit der Mitte des
19. Jahrhunderts die Vorstellung, der junge Künstler habe entscheidende
Anstöße für seine Entwicklung durch eine Reise nach Norditalien erhal-
ten. Zwar hatte Karel van Mander in seiner Vita Holbeins im Jahre 1604
noch kategorisch behauptet: »Hy is in Italien niet gheweest«,1 zwar wußte
man bereits früh um die Rezeption italienischer Architektur- und Orna-
mentformen in Augsburg wie in Basel,2 doch seit den 1850er Jahren gin-
gen stilistische Beobachtungen an Holbeins Bildern - bzw. an Werken,
die man ihm damals zuschrieb - eine wirkmächtige Verbindung mit
(kunst-)ideologisch normierten Vorstellungen vom »richtigen« deut-
schen Renaissancekünstler ein, die die kunstgeschichtliche Forschung
über lange Zeit beherrschen sollten.
Es gehört zu den ironischen Pointen der frühen Holbein-Forschung,
daß in einer der bedeutendsten Sammlungen Deutschlands, der Dresde-
ner Gemäldegalerie, ein Hauptwerk Holbeins - das vermutlich im Jahre
1534 entstandene Bildnis des Charles de Solier, Sieur de Morette
(Abb. 21)3 - bis 1860 als Arbeit Leonardo da Vincis gelten konnte, wäh-
rend gleichzeitig eine Kopie des frühen 17. Jahrhunderts nach Holbeins
»Darmstädter Madonna« als Originalwerk unseres Künstlers betrachtet
wurde (Abb. 22).4 Mehr noch, diese italianisierende Kopie, eine um
1635/37 entstandene Arbeit des bereits in den 1620er Jahren auch in
Basel tätigen Malers Bartholomäus Sarburgh (um 1590-nach 1637),
21 Hans Holbein d.J., Bildnis des Charles de Solier, Sieur de Morette, Dresden, Staatliche
Kunstsammlungen
nahm als vermeintliches opus magnum des »deutschen Raffael«5 inner-
halb der Hängung der Dresdener Galerie seit dem Jahre 1855 den Ehren-
platz gegenüber der »Sixtinischen Madonna« Raffaels ein und sollte auf
diese Weise programmatisch die Gleichrangigkeit der deutschen mit der
italienischen Schule demonstrieren.6 So waren in Dresden exemplarisch
zwei Fehlurteile zu besichtigen: das eine stilkritisch, der andere kunst-
ideologisch untermauert.
Nur wenig früher hatten stilistische Beobachtungen auch an prominen-
ten Baseler Holbein-Werken - der Abendmahlstafel, der »Lais Corinthi-
aca« und der Venus mit Amor sowie den »Passionsflügeln« - zur Diskus-
sion der Frage geführt, wie deren augenscheinlicher »Italianismus« zu
erklären sei. So wurde schon früh die Abhängigkeit des Baseler Abend-
mahls (Tafel 57)' von Leonardo da Vincis berühmtem Wandbild in
S. Maria delle Grazie in Mailand (Abb. 23)s postuliert. Es war Sulpiz Bois-
seree, der die Ähnlichkeiten für so bedeutend hielt, daß er im Jahr 1829
die Vermutung äußerte, »... Holbein dürfte wohl auf seiner ersten Wan-
derschaft nach Mailand gekommen seyn.«9 Die Annahme einer bewuß-
ten Auseinandersetzung Holbeins mit Leonardos Hauptwerk sollte seit-
her nicht mehr in Frage gestellt werden.10
Die unmittelbare Kenntnis italienischer Malerei wurde auch bei Lais
(Tafel 53) und Venus (Tafel 54)11 vorausgesetzt. Carl Friedrich von Ru-
mohr glaubte gar, der Schöpfer dieser beiden zuvor niemals als Werke
Holbeins angezweifelten Bilder »...war nothwendig in Italien gewesen,
und hatte Lionardo und dessen Nachahmer ins Auge gefasst. Anderer-
seits hatte er im Oelmalen niederländische Methoden, Hülfswege,
Manieren angenommen.« Da von Rumohr van Manders Aussage, Hol-
bein sei nie in Italien gewesen, ernst nahm, schied für ihn Holbein als
Autor beider Werke aus: »Bernhard von Orley, oder ein anderer dersel-
ben Art, Schule und Tendenz, mag diese Bilder, sei's für Holbein selbst,
oder auch, nach dessen Entfernung aus Basel, nach seinen Zeichnungen
für einen Besteller ausgeführt haben.«12
Diese Konsequenz wollte die nachfolgende Forschung allerdings nicht
ziehen. So entschied man sich seit Franz Kugler - vor die Alternative
gestellt, van Mander nicht zu glauben oder Lais und Venus als Holbein-
Werke abzulehnen - für die erste Option und schickte den jungen Künst-
ler auf die Reise über die Alpen.13 Für eine solche Italienreise schienen
schließlich auch die »...direkt mailändischen Motive« zu sprechen, die
erstmals Kugler an den »Passionsflügeln« (Tafel 42)n ausgemacht hatte
(und denen sich später Nachweise weiterer Zitate nach Werken von Man-
tegna und Raffael hinzugesellen sollten).15
Zwar konnte bis zum heutigen Tag in keinem einzigen Fall nachgewie-
sen werden, daß die Gestaltung einer bestimmten (frühen) Holbein-
Arbeit nur durch die Originalkenntnis eines bestimmten italienischen
Kunstwerks - und nicht durch die indirekte Vermittlung über Nach-
zeichnungen oder Reproduktionsgraphik - erklärt werden kann, doch
nahm dies der Hypothese einer um 1517-19 von Luzern aus unter-
nommenen Italienreise nichts von ihrer Popularität.15 In schönstem
Zirkelschluß wurden die unzweifelhaft mit italienischen Motiven und
italienischen Stilelementen auftrumpfenden, jedoch undatierten »Pas-
56 »Holbein-Bilder«. Entstehung und Kritik
Der junge Holbein und Italien
Zu den ehernen Mythen um Hans Holbein d. J. zählt seit der Mitte des
19. Jahrhunderts die Vorstellung, der junge Künstler habe entscheidende
Anstöße für seine Entwicklung durch eine Reise nach Norditalien erhal-
ten. Zwar hatte Karel van Mander in seiner Vita Holbeins im Jahre 1604
noch kategorisch behauptet: »Hy is in Italien niet gheweest«,1 zwar wußte
man bereits früh um die Rezeption italienischer Architektur- und Orna-
mentformen in Augsburg wie in Basel,2 doch seit den 1850er Jahren gin-
gen stilistische Beobachtungen an Holbeins Bildern - bzw. an Werken,
die man ihm damals zuschrieb - eine wirkmächtige Verbindung mit
(kunst-)ideologisch normierten Vorstellungen vom »richtigen« deut-
schen Renaissancekünstler ein, die die kunstgeschichtliche Forschung
über lange Zeit beherrschen sollten.
Es gehört zu den ironischen Pointen der frühen Holbein-Forschung,
daß in einer der bedeutendsten Sammlungen Deutschlands, der Dresde-
ner Gemäldegalerie, ein Hauptwerk Holbeins - das vermutlich im Jahre
1534 entstandene Bildnis des Charles de Solier, Sieur de Morette
(Abb. 21)3 - bis 1860 als Arbeit Leonardo da Vincis gelten konnte, wäh-
rend gleichzeitig eine Kopie des frühen 17. Jahrhunderts nach Holbeins
»Darmstädter Madonna« als Originalwerk unseres Künstlers betrachtet
wurde (Abb. 22).4 Mehr noch, diese italianisierende Kopie, eine um
1635/37 entstandene Arbeit des bereits in den 1620er Jahren auch in
Basel tätigen Malers Bartholomäus Sarburgh (um 1590-nach 1637),
21 Hans Holbein d.J., Bildnis des Charles de Solier, Sieur de Morette, Dresden, Staatliche
Kunstsammlungen
nahm als vermeintliches opus magnum des »deutschen Raffael«5 inner-
halb der Hängung der Dresdener Galerie seit dem Jahre 1855 den Ehren-
platz gegenüber der »Sixtinischen Madonna« Raffaels ein und sollte auf
diese Weise programmatisch die Gleichrangigkeit der deutschen mit der
italienischen Schule demonstrieren.6 So waren in Dresden exemplarisch
zwei Fehlurteile zu besichtigen: das eine stilkritisch, der andere kunst-
ideologisch untermauert.
Nur wenig früher hatten stilistische Beobachtungen auch an prominen-
ten Baseler Holbein-Werken - der Abendmahlstafel, der »Lais Corinthi-
aca« und der Venus mit Amor sowie den »Passionsflügeln« - zur Diskus-
sion der Frage geführt, wie deren augenscheinlicher »Italianismus« zu
erklären sei. So wurde schon früh die Abhängigkeit des Baseler Abend-
mahls (Tafel 57)' von Leonardo da Vincis berühmtem Wandbild in
S. Maria delle Grazie in Mailand (Abb. 23)s postuliert. Es war Sulpiz Bois-
seree, der die Ähnlichkeiten für so bedeutend hielt, daß er im Jahr 1829
die Vermutung äußerte, »... Holbein dürfte wohl auf seiner ersten Wan-
derschaft nach Mailand gekommen seyn.«9 Die Annahme einer bewuß-
ten Auseinandersetzung Holbeins mit Leonardos Hauptwerk sollte seit-
her nicht mehr in Frage gestellt werden.10
Die unmittelbare Kenntnis italienischer Malerei wurde auch bei Lais
(Tafel 53) und Venus (Tafel 54)11 vorausgesetzt. Carl Friedrich von Ru-
mohr glaubte gar, der Schöpfer dieser beiden zuvor niemals als Werke
Holbeins angezweifelten Bilder »...war nothwendig in Italien gewesen,
und hatte Lionardo und dessen Nachahmer ins Auge gefasst. Anderer-
seits hatte er im Oelmalen niederländische Methoden, Hülfswege,
Manieren angenommen.« Da von Rumohr van Manders Aussage, Hol-
bein sei nie in Italien gewesen, ernst nahm, schied für ihn Holbein als
Autor beider Werke aus: »Bernhard von Orley, oder ein anderer dersel-
ben Art, Schule und Tendenz, mag diese Bilder, sei's für Holbein selbst,
oder auch, nach dessen Entfernung aus Basel, nach seinen Zeichnungen
für einen Besteller ausgeführt haben.«12
Diese Konsequenz wollte die nachfolgende Forschung allerdings nicht
ziehen. So entschied man sich seit Franz Kugler - vor die Alternative
gestellt, van Mander nicht zu glauben oder Lais und Venus als Holbein-
Werke abzulehnen - für die erste Option und schickte den jungen Künst-
ler auf die Reise über die Alpen.13 Für eine solche Italienreise schienen
schließlich auch die »...direkt mailändischen Motive« zu sprechen, die
erstmals Kugler an den »Passionsflügeln« (Tafel 42)n ausgemacht hatte
(und denen sich später Nachweise weiterer Zitate nach Werken von Man-
tegna und Raffael hinzugesellen sollten).15
Zwar konnte bis zum heutigen Tag in keinem einzigen Fall nachgewie-
sen werden, daß die Gestaltung einer bestimmten (frühen) Holbein-
Arbeit nur durch die Originalkenntnis eines bestimmten italienischen
Kunstwerks - und nicht durch die indirekte Vermittlung über Nach-
zeichnungen oder Reproduktionsgraphik - erklärt werden kann, doch
nahm dies der Hypothese einer um 1517-19 von Luzern aus unter-
nommenen Italienreise nichts von ihrer Popularität.15 In schönstem
Zirkelschluß wurden die unzweifelhaft mit italienischen Motiven und
italienischen Stilelementen auftrumpfenden, jedoch undatierten »Pas-
56 »Holbein-Bilder«. Entstehung und Kritik