Einleitung
»Hans Holbein. Portrait of an Unknown Man«: So lautet der Titel der im
Jahre 1996 erschienenen Monographie von Derek Wilson, einer der zahl-
reichen Neuerscheinungen zu Leben und Werk Hans Holbeins des Jün-
geren (1497/98-1543), die mit Blick auf dessen 500. Geburtstag in den
letzten Jahren publiziert worden sind.1
»Portrait of an Unknown Man« - mit seinem Untertitel spielt Wilson
auf das vollständige Fehlen schriftlicher Selbstäußerungen des Künstlers
an. Da auch die sonstige zeitgenössische schriftliche Überlieferung im
Falle Holbeins dürftig ist, hat dies von frühauf die intensive anekdotische
Anreicherung der Lebensgeschichte dieses außergewöhnlichen Künstlers
befördert.2 Gleiches gilt auch für die mit Alfred Woltmann und Ralph
Nicholson Wornum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einset-
zende, eigentliche kunsthistorische Bearbeitung des Malers.3 Sein GEuvre
wird seither vor allem in den jeweiligen kunst- und kulturhistorischen
Kontext eingeordnet: Die Handelsmetropolen Augsburg, Basel und Lon-
don werden geschildert, der Einfluß von Humanismus und Reformation
diskutiert, das Vorbild der italienischen Kunst erörtert und die Auftrag-
geber vorgestellt. In Holbeins erhaltenem Werk dominieren die Bild-
nisse - von den 82 von John Rowlands, dem Verfasser des letzterschiene-
nen »Kritischen Katalogs«, anerkannten Werken des Malers sind nicht
weniger als 64 Porträts!4 Diese dienen üblicherweise vor allem der aus-
führlichen Erörterung der Lebensgeschichte der Dargestellten, der mut-
maßlichen Umstände der Auftragserteilung, idealiter der besonderen
Beziehung zwischen Porträtiertem und Porträtisten. So überrascht es
nicht, daß die spezifischen Gestaltungsmerkmale einzelner Werke bis vor
wenigen Jahren nur höchst selten zur Sprache gekommen sind."1
Holbeins Werk ist in größerem Maße als das Schaffen irgendeines ande-
ren führenden europäischen Künstlers des 16. Jahrhunderts durch die
äußeren Zeit- und Lebensumstände in formaler wie funktionaler Hin-
sicht parzelliert. Dies betrifft nicht nur die wechselnden Schauplätze sei-
ner Tätigkeit und damit zugleich die unterschiedlichen künstlerischen
Vorstellungen seiner potentiellen Auftraggeber, Kunden und Käufer
unter dem frühbürgerlichen Publikum in Städten wie Luzern und Basel,
in den Humanistenzirkeln um Erasmus von Rotterdam und Thomas
More, im Kreis der Londoner Hansekaufleute oder am Hof Hein-
richs VIII. von England. Die Aufsplitterung von Holbeins Werk liegt auch
in der zeitbedingten Veränderung jener Aufgaben begründet, mit denen
der Künstler sich im Laufe seines Lebens konfrontiert sah. In der ersten
Hälfte seiner Schaffenszeit, den bis 1532 währenden »Baseler Jahren«,6
hatte sich Holbein dem ganzen Aufgabenspektrum eines »zünftig« orga-
nisierten Künstlers vom religiösen bis zum profanen Bildwerk gewidmet,
Skulpturen ebenso wie Wetterfahnen oder Zifferblätter von Turmuhren
gefaßt, außerdem monumentale Wandmalereien ausgeführt und Ent-
würfe für den Buchdruck geliefert. Mit dem Bildersturm und der Ein-
führung der Reformation in Basel brach Holbein im Jahre 1529 der ent-
scheidende Teil seiner bisherigen Existenzmöglichkeit weg, die sich
durchaus noch in den traditionellen Bahnen eines spätmittelalterlichen
Künstlers bewegt hatte. Die erfolgreiche Konzentration auf das Bildnis-
fach (und die Entwurfstätigkeit für kunsthandwerkliche Arbeiten für den
englischen Hof), die seine Tätigkeit seit Anfang der dreißiger Jahre in
London kennzeichnen sollte, wäre in Basel mangels Nachfrage nicht
möglich gewesen. Daher markiert sein endgültiger Weggang aus dieser
Stadt auch einen tiefen Einschnitt in sein künstlerisches Schaffen, der
sich zugleich in seiner veränderten gesellschaftlichen Rolle spiegelt: vom
Baseler Stadtbürger und Mitglied der dortigen Malerzunft zum Hofma-
ler des englischen Königs in London.
Parzelliert ist allerdings nicht allein das Holbein-GEuvre, parzelliert
ist - nicht zuletzt durch die fortschreitende Spezialisierung unseres
Faches - auch dessen kunsthistorische Bearbeitung.' Dies betrifft nicht
bloß die gattungsbezogene Aufsplitterung der Forschung in Studien zu
Tafel- und monumentaler Wandmalerei, zu Zeichnung und Druckgra-
phik sowie zur Entwurfstätigkeit für den Buchdruck und das Kunst-
handwerk; das tafelmalerische Schaffen Holbeins zerfällt in seiner Bear-
beitung zusätzlich in chronologischer Hinsicht in die Baseler (1515-32)
und die Londoner Zeit (1532-43).
Der »englische« Holbein ist in den vergangenen fünfzehn Jahren intensiv
bearbeitet worden. Die Untersuchungen von Susan Foister, Maryan Ains-
worth und Stephanie Buck haben nicht nur eine Fülle von neuen Ein-
sichten zu einzelnen Gemälden geliefert, sondern vor allem den Blick auf
einen - auch in künstlerischer Hinsicht - außerordentlich ökonomisch
agierenden Leiter einer höchst erfolgreichen Werkstatt freigegeben.8 Ins-
besondere Maryan Ainsworths Beobachtung, daß Holbein spätestens seit
1527 systematisch damit begonnen hat, seine Bildniszeichnungen auf
mechanischem Wege auf die grundierten Tafeln zu übertragen (und dazu
eine Art Kohlepapier benutzt haben dürfte, das zwischen Zeichnung und
Grundierung gelegt wurde),9 führte zum ersten Mal zu einem wirklichen
Verständnis der von dem Bildnismaler Holbein seit den späten 1520er
Jahren praktizierten Arbeitsweise. So konnte Ainsworth nicht nur aut
höchst elegante Weise erklären, weshalb sich unter meisterhaft in Farbe
ausgeführten Bildnissen auffallend schematisch, ja unbeholfen wirkende
Unterzeichnungen finden - sind diese doch »blind« durchgegriffelt wor-
den —, sie konnte außerdem wesentliche neue Argumente in den jahr-
zehntelangen, fruchtlosen Streit um die Entstehungsbedingungen, den
Zustand und die damit verbundene dornige Frage einer möglichen spä-
teren Überarbeitung zahlreicher Bildniszeichnungen des Künstlers ein-
bringen.10
Diese neuen Erkenntnisse zum »englischen« Bildnismaler Holbein
basieren nun nicht nur auf der von Maryan Ainsworth selbst durchge-
führten gemäldetechnologischen Untersuchung einer größeren Anzahl
von Gemälden, sondern haben auch dazu geführt, daß in den letzten Jah-
ren zahlreiche weitere Holbein-Bildnisse, vor allem aus den 1530er und
frühen 1540er Jahren, näher in Augenschein genommen worden sind.
Besonders spektakulär war zweifellos die Untersuchung, vor allem aber
die anschließende Reinigung des 1533 entstandenen, monumentalen
Londoner Doppelporträts von Jean de Dinteville und Georges de Selve,
den beiden französischen Gesandten am englischen Hof. Die Ergebnisse
wurden im Jahre 1997/98 in einer Sonderausstellung im Rahmen der
Serie »Art in the Making« in der Londoner National Gallery von Susan
Einleitung 9
»Hans Holbein. Portrait of an Unknown Man«: So lautet der Titel der im
Jahre 1996 erschienenen Monographie von Derek Wilson, einer der zahl-
reichen Neuerscheinungen zu Leben und Werk Hans Holbeins des Jün-
geren (1497/98-1543), die mit Blick auf dessen 500. Geburtstag in den
letzten Jahren publiziert worden sind.1
»Portrait of an Unknown Man« - mit seinem Untertitel spielt Wilson
auf das vollständige Fehlen schriftlicher Selbstäußerungen des Künstlers
an. Da auch die sonstige zeitgenössische schriftliche Überlieferung im
Falle Holbeins dürftig ist, hat dies von frühauf die intensive anekdotische
Anreicherung der Lebensgeschichte dieses außergewöhnlichen Künstlers
befördert.2 Gleiches gilt auch für die mit Alfred Woltmann und Ralph
Nicholson Wornum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einset-
zende, eigentliche kunsthistorische Bearbeitung des Malers.3 Sein GEuvre
wird seither vor allem in den jeweiligen kunst- und kulturhistorischen
Kontext eingeordnet: Die Handelsmetropolen Augsburg, Basel und Lon-
don werden geschildert, der Einfluß von Humanismus und Reformation
diskutiert, das Vorbild der italienischen Kunst erörtert und die Auftrag-
geber vorgestellt. In Holbeins erhaltenem Werk dominieren die Bild-
nisse - von den 82 von John Rowlands, dem Verfasser des letzterschiene-
nen »Kritischen Katalogs«, anerkannten Werken des Malers sind nicht
weniger als 64 Porträts!4 Diese dienen üblicherweise vor allem der aus-
führlichen Erörterung der Lebensgeschichte der Dargestellten, der mut-
maßlichen Umstände der Auftragserteilung, idealiter der besonderen
Beziehung zwischen Porträtiertem und Porträtisten. So überrascht es
nicht, daß die spezifischen Gestaltungsmerkmale einzelner Werke bis vor
wenigen Jahren nur höchst selten zur Sprache gekommen sind."1
Holbeins Werk ist in größerem Maße als das Schaffen irgendeines ande-
ren führenden europäischen Künstlers des 16. Jahrhunderts durch die
äußeren Zeit- und Lebensumstände in formaler wie funktionaler Hin-
sicht parzelliert. Dies betrifft nicht nur die wechselnden Schauplätze sei-
ner Tätigkeit und damit zugleich die unterschiedlichen künstlerischen
Vorstellungen seiner potentiellen Auftraggeber, Kunden und Käufer
unter dem frühbürgerlichen Publikum in Städten wie Luzern und Basel,
in den Humanistenzirkeln um Erasmus von Rotterdam und Thomas
More, im Kreis der Londoner Hansekaufleute oder am Hof Hein-
richs VIII. von England. Die Aufsplitterung von Holbeins Werk liegt auch
in der zeitbedingten Veränderung jener Aufgaben begründet, mit denen
der Künstler sich im Laufe seines Lebens konfrontiert sah. In der ersten
Hälfte seiner Schaffenszeit, den bis 1532 währenden »Baseler Jahren«,6
hatte sich Holbein dem ganzen Aufgabenspektrum eines »zünftig« orga-
nisierten Künstlers vom religiösen bis zum profanen Bildwerk gewidmet,
Skulpturen ebenso wie Wetterfahnen oder Zifferblätter von Turmuhren
gefaßt, außerdem monumentale Wandmalereien ausgeführt und Ent-
würfe für den Buchdruck geliefert. Mit dem Bildersturm und der Ein-
führung der Reformation in Basel brach Holbein im Jahre 1529 der ent-
scheidende Teil seiner bisherigen Existenzmöglichkeit weg, die sich
durchaus noch in den traditionellen Bahnen eines spätmittelalterlichen
Künstlers bewegt hatte. Die erfolgreiche Konzentration auf das Bildnis-
fach (und die Entwurfstätigkeit für kunsthandwerkliche Arbeiten für den
englischen Hof), die seine Tätigkeit seit Anfang der dreißiger Jahre in
London kennzeichnen sollte, wäre in Basel mangels Nachfrage nicht
möglich gewesen. Daher markiert sein endgültiger Weggang aus dieser
Stadt auch einen tiefen Einschnitt in sein künstlerisches Schaffen, der
sich zugleich in seiner veränderten gesellschaftlichen Rolle spiegelt: vom
Baseler Stadtbürger und Mitglied der dortigen Malerzunft zum Hofma-
ler des englischen Königs in London.
Parzelliert ist allerdings nicht allein das Holbein-GEuvre, parzelliert
ist - nicht zuletzt durch die fortschreitende Spezialisierung unseres
Faches - auch dessen kunsthistorische Bearbeitung.' Dies betrifft nicht
bloß die gattungsbezogene Aufsplitterung der Forschung in Studien zu
Tafel- und monumentaler Wandmalerei, zu Zeichnung und Druckgra-
phik sowie zur Entwurfstätigkeit für den Buchdruck und das Kunst-
handwerk; das tafelmalerische Schaffen Holbeins zerfällt in seiner Bear-
beitung zusätzlich in chronologischer Hinsicht in die Baseler (1515-32)
und die Londoner Zeit (1532-43).
Der »englische« Holbein ist in den vergangenen fünfzehn Jahren intensiv
bearbeitet worden. Die Untersuchungen von Susan Foister, Maryan Ains-
worth und Stephanie Buck haben nicht nur eine Fülle von neuen Ein-
sichten zu einzelnen Gemälden geliefert, sondern vor allem den Blick auf
einen - auch in künstlerischer Hinsicht - außerordentlich ökonomisch
agierenden Leiter einer höchst erfolgreichen Werkstatt freigegeben.8 Ins-
besondere Maryan Ainsworths Beobachtung, daß Holbein spätestens seit
1527 systematisch damit begonnen hat, seine Bildniszeichnungen auf
mechanischem Wege auf die grundierten Tafeln zu übertragen (und dazu
eine Art Kohlepapier benutzt haben dürfte, das zwischen Zeichnung und
Grundierung gelegt wurde),9 führte zum ersten Mal zu einem wirklichen
Verständnis der von dem Bildnismaler Holbein seit den späten 1520er
Jahren praktizierten Arbeitsweise. So konnte Ainsworth nicht nur aut
höchst elegante Weise erklären, weshalb sich unter meisterhaft in Farbe
ausgeführten Bildnissen auffallend schematisch, ja unbeholfen wirkende
Unterzeichnungen finden - sind diese doch »blind« durchgegriffelt wor-
den —, sie konnte außerdem wesentliche neue Argumente in den jahr-
zehntelangen, fruchtlosen Streit um die Entstehungsbedingungen, den
Zustand und die damit verbundene dornige Frage einer möglichen spä-
teren Überarbeitung zahlreicher Bildniszeichnungen des Künstlers ein-
bringen.10
Diese neuen Erkenntnisse zum »englischen« Bildnismaler Holbein
basieren nun nicht nur auf der von Maryan Ainsworth selbst durchge-
führten gemäldetechnologischen Untersuchung einer größeren Anzahl
von Gemälden, sondern haben auch dazu geführt, daß in den letzten Jah-
ren zahlreiche weitere Holbein-Bildnisse, vor allem aus den 1530er und
frühen 1540er Jahren, näher in Augenschein genommen worden sind.
Besonders spektakulär war zweifellos die Untersuchung, vor allem aber
die anschließende Reinigung des 1533 entstandenen, monumentalen
Londoner Doppelporträts von Jean de Dinteville und Georges de Selve,
den beiden französischen Gesandten am englischen Hof. Die Ergebnisse
wurden im Jahre 1997/98 in einer Sonderausstellung im Rahmen der
Serie »Art in the Making« in der Londoner National Gallery von Susan
Einleitung 9