Holbein und das Vorbild Jan van Eycks.
Die »Solothurner Madonna«
Im Jahre 1522, als Holbein nicht nur seine erste Kampagne zur Ausma-
lung des Baseler Großratssaals beendete, sondern auch sein Gemälde des
Toten Christus im Grabe durch die Übermalung der ursprünglich gerun-
deten Nischenform zum heutigen Zustand veränderte, schuf er im Auf-
trag des Baseler Stadtschreibers Johannes Gerster (t 1531) und dessen
Frau Barbara Guldinknopf auch die »Solothurner Madonna« (Tafel 32)}
Das nach seinem heutigen Aufbewahrungsort, dem Kunstmuseum Solo-
thurn, benannte Gemälde hat ein fast quadratisches Bildformat, das von
einem eingezogenen Halbkreis überfangen wird. Die Maße des ehemals
auf Lindenholz gemalten, heute auf einen neuen Bildträger übertragenen
Gemäldes betragen 143,5x104 cm - ein angesichts der Monumentalität
des Bildentwurfs erstaunlich moderates Format. Nur wenig höher, aber
von analoger Gestaltung des Bildfeldes mit eingezogenem oberem Rund-
bogenabschluß, ist auch das zweite der erhaltenen Marienbilder Hol-
beins, die etwa vier Jahre später entstandene »Darmstädter Madonna«
{Tafel 61).1 Hier wie dort ist der ursprüngliche Rahmen verloren, was
besonders bedauerlich ist, scheinen doch die Bildarchitekturen beider
Gemälde unmittelbar auf die ehemalige Rahmung Bezug zu nehmen.3
Zeigt die »Darmstädter Madonna« die stehende Gottesmutter mit dem
Christuskind im Kreis der Familienangehörigen des Jacob Meyer zum
Hasen, über die ihr Umhang in der Art einer Schutzmantelmadonna aus-
gebreitet ist, erscheint bei der »Solothurner Madonna« die thronende
Maria mit dem Kind auf dem Schoß zwischen den Heiligen Martin und
Ursus in einer Kompositionsform, die an die italienische »Sacra Conver-
sazione«, aber auch an cisalpine Gemälde in der Art von Jan van Eycks
»Madonna des Joris van der Paele« {Abb. 25), erinnert.4 Das Stifterpaar ist
im Solothurner Bilde nur indirekt präsent, vertreten durch seine Wap-
pen, die in den Teppich zu Füßen Mariens eingewebt sind.D Die darge-
stellten Figuren selbst sind in ausgeprägter Untersicht dargestellt - der
Augenpunkt liegt nur wenig über der unteren Bildkante auf Höhe
der Standfläche des Ursus.6
Maria und die beiden Heiligen befinden sich vor einem Torbogen, der
seinerseits durch zwei kräftige Zuganker betont wird. Dieser Bogen gibt
den Blick auf das Himmelsblau des Hintergrundes frei, das indes nicht
vollkommen einheitlich ist; eine deutliche Aufhellung um das Haupt
Mariens herum erinnert vielmehr an einen Heiligenschein. Die Licht-
führung ist uneinheitlich: Erhalten die Madonna und der Bischof das
Bildlicht von rechts oben, so zeichnet ein von vorne links einfallendes
Licht den Schatten des Ritterheiligen auf die hinter ihm befindliche
Wandfläche. Eine weitere Lichtquelle müßte sich links hinter dem Tor
befinden; ihr sind beispielsweise die partielle Aufhellung des Tonnenge-
wölbes oder die Schlagschatten der Zuganker zu verdanken. Dieser
Uneinheitlichkeit ungeachtet, verleiht das Spiel von Licht und Schatten
der Komposition Tiefe und läßt den Goldbrokat und die Stickereien an
Martins Pontifikalornat ebenso effektvoll aufblitzen wie die Details an
der Rüstung des Ursus, die ihrerseits das Rot des Fahnentuchs reflektiert.
Maria hat auf einem breiten, blockartigen Sitz Platz genommen, der
von ihrem weiten, leicht plissierten blauen Umhang vollkommen ver-
deckt wird (Tafel 34). Ein Teil dieses Umhangs fällt ebenso wie der Saum
ihres rosafarbenen Kleides über die erhöhte Stufe des Thronpodests
herab, das wiederum von dem grüngrundigen Teppich mit den Stifter-
wappen bedeckt ist. Mariens Beine weisen leicht nach rechts, ihr Ober-
körper jedoch ist fast frontal ausgerichtet. Sie hält den wohlgenährten
Christusknaben auf ihrem Schoß, mit ihrer Rechten das eine Beinchen
umfassend, mit ihrer Linken den Oberkörper stützend. Das Haupt sacht
nach rechts geneigt, blickt die Gottesmutter in Richtung des Betrachters
nieder. An Ärmeln und Halsausschnitt des roten Kleides wird ein weißes
Hemd sichtbar. Vor der Brust hält eine goldfarbene Brosche die Saum-
bänder ihres blauen Umhangs zusammen. Die offenen, hellbraunen
Haare bedeckt ein transparentes Schleiertuch mit dünnem schwarzem
Saum. Auf dem Haupt sitzt eine goldfarbene Krone, deren Reif mit roten
und blauen Steinen besetzt ist, während die stilisierten Lilien, die den Reif
bekrönen, jeweils mit einer Perle abschließen. Das nackte Christuskind
zappelt im Schoß seiner Mutter, weist mit der Rechten tolpatschig in
Richtung des Betrachters und erprobt noch eher spielerisch den Segens-
gestus. Sein Blick geht nach links aus dem Bild hinaus.
Zur Rechten Mariens, jedoch schräg hinter ihrem Thronpodest, steht
der jugendlich-bartlose Heilige Martin. Im Dreiviertelprofil nach rechts
dargestellt, wendet er sich dem vor ihm hockenden bärtigen Bettler zu,
der ihm geradezu attributiv beigegeben ist: Sehr viel mehr als der zum
Heiligen aufblickende, struppige Kopf und die Linke, mit der er seine
Schale almosenheischend emporhält, sind von ihm nicht auszumachen.
Martin läßt ihm mit der Rechten einige Münzen in die Schale gleiten,
während er sich mit der Linken auf seinen Bischofsstab stützt. Als Bischof
trägt der Heilige Albe und Amikt, beide wie üblich in Weiß, eine fla-
schengrüne Dalmatika, darüber eine Glockenkasel aus dunkelblauem
Goldbrokat, die zinnoberrot gefüttert ist. Dieser Chormantel ist mit min-
destens zwei Reihen figürlicher Szenen dekoriert, die von gotischen
Architekturabbreviaturen eingetaßt und nach oben abgeschlossen wer-
den (Abb. 99). Da Martin seine Glockenkasel über die Arme zurückge-
schlagen hat, sind die einzelnen Szenen bzw. Motive größtenteils nur aus-
schnitthaft zu erkennen;7 allein eine Darstellung unterhalb von Martins
rechtem Unterarm läßt sich vollständig ablesen. Sie zeigt den Haupt-
mann von Kapharnaum, der anbetend vor Christus auf die Knie gefallen
ist.s Auch in der sich rechts unmittelbar anschließenden Szene ist in
einem Faltental eindeutig ein Kreuznimbus auszumachen, ebenso in
dem oberhalb dieser beiden Darstellungen befindlichen Bildfeld, das
möglicherweise die Verklärung Christi auf dem Berge Tabor zeigen soll.9
Unmittelbar links des Kaselstabes ist ein sich heftig bewegender Mann zu
erkennen, aus dessen Mund ein Mischwesen zu entweichen scheint, viel-
leicht die Darstellung der Heilung eines Besessenen.10 Anscheinend han-
delt es sich bei der Mehrzahl der Szenen, wenn nicht bei allen, um
Geschichten, die das öffentliche Wirken Jesu zum Thema haben. Der
Halsausschnitt von Martins Kasel ist von goldfarbenen Borten gesäumt,
in die Vierpässe mit eingestreuten stilisierten Blättern eingefügt sind. Der
sichtbare Abschnitt des Kaselstabs ist mit zwei hochrechteckigen Pas-
sionsszenen - Christus vor Pilatus" und der Dornenkrönung - unter
gotischen Ädikulen sowie einem Vierpaß mit einem Engel besetzt, der
Dornenkrone und Geißel hält. Hierbei soll es sich offenbar um ältere, für
diese Kasel wiederverwendete Stickereien auf goldtarbenem Webgrund
148 Holbeins Gemälde. Der Künstler als Tafelmaler in Basel, 1515-32
Die »Solothurner Madonna«
Im Jahre 1522, als Holbein nicht nur seine erste Kampagne zur Ausma-
lung des Baseler Großratssaals beendete, sondern auch sein Gemälde des
Toten Christus im Grabe durch die Übermalung der ursprünglich gerun-
deten Nischenform zum heutigen Zustand veränderte, schuf er im Auf-
trag des Baseler Stadtschreibers Johannes Gerster (t 1531) und dessen
Frau Barbara Guldinknopf auch die »Solothurner Madonna« (Tafel 32)}
Das nach seinem heutigen Aufbewahrungsort, dem Kunstmuseum Solo-
thurn, benannte Gemälde hat ein fast quadratisches Bildformat, das von
einem eingezogenen Halbkreis überfangen wird. Die Maße des ehemals
auf Lindenholz gemalten, heute auf einen neuen Bildträger übertragenen
Gemäldes betragen 143,5x104 cm - ein angesichts der Monumentalität
des Bildentwurfs erstaunlich moderates Format. Nur wenig höher, aber
von analoger Gestaltung des Bildfeldes mit eingezogenem oberem Rund-
bogenabschluß, ist auch das zweite der erhaltenen Marienbilder Hol-
beins, die etwa vier Jahre später entstandene »Darmstädter Madonna«
{Tafel 61).1 Hier wie dort ist der ursprüngliche Rahmen verloren, was
besonders bedauerlich ist, scheinen doch die Bildarchitekturen beider
Gemälde unmittelbar auf die ehemalige Rahmung Bezug zu nehmen.3
Zeigt die »Darmstädter Madonna« die stehende Gottesmutter mit dem
Christuskind im Kreis der Familienangehörigen des Jacob Meyer zum
Hasen, über die ihr Umhang in der Art einer Schutzmantelmadonna aus-
gebreitet ist, erscheint bei der »Solothurner Madonna« die thronende
Maria mit dem Kind auf dem Schoß zwischen den Heiligen Martin und
Ursus in einer Kompositionsform, die an die italienische »Sacra Conver-
sazione«, aber auch an cisalpine Gemälde in der Art von Jan van Eycks
»Madonna des Joris van der Paele« {Abb. 25), erinnert.4 Das Stifterpaar ist
im Solothurner Bilde nur indirekt präsent, vertreten durch seine Wap-
pen, die in den Teppich zu Füßen Mariens eingewebt sind.D Die darge-
stellten Figuren selbst sind in ausgeprägter Untersicht dargestellt - der
Augenpunkt liegt nur wenig über der unteren Bildkante auf Höhe
der Standfläche des Ursus.6
Maria und die beiden Heiligen befinden sich vor einem Torbogen, der
seinerseits durch zwei kräftige Zuganker betont wird. Dieser Bogen gibt
den Blick auf das Himmelsblau des Hintergrundes frei, das indes nicht
vollkommen einheitlich ist; eine deutliche Aufhellung um das Haupt
Mariens herum erinnert vielmehr an einen Heiligenschein. Die Licht-
führung ist uneinheitlich: Erhalten die Madonna und der Bischof das
Bildlicht von rechts oben, so zeichnet ein von vorne links einfallendes
Licht den Schatten des Ritterheiligen auf die hinter ihm befindliche
Wandfläche. Eine weitere Lichtquelle müßte sich links hinter dem Tor
befinden; ihr sind beispielsweise die partielle Aufhellung des Tonnenge-
wölbes oder die Schlagschatten der Zuganker zu verdanken. Dieser
Uneinheitlichkeit ungeachtet, verleiht das Spiel von Licht und Schatten
der Komposition Tiefe und läßt den Goldbrokat und die Stickereien an
Martins Pontifikalornat ebenso effektvoll aufblitzen wie die Details an
der Rüstung des Ursus, die ihrerseits das Rot des Fahnentuchs reflektiert.
Maria hat auf einem breiten, blockartigen Sitz Platz genommen, der
von ihrem weiten, leicht plissierten blauen Umhang vollkommen ver-
deckt wird (Tafel 34). Ein Teil dieses Umhangs fällt ebenso wie der Saum
ihres rosafarbenen Kleides über die erhöhte Stufe des Thronpodests
herab, das wiederum von dem grüngrundigen Teppich mit den Stifter-
wappen bedeckt ist. Mariens Beine weisen leicht nach rechts, ihr Ober-
körper jedoch ist fast frontal ausgerichtet. Sie hält den wohlgenährten
Christusknaben auf ihrem Schoß, mit ihrer Rechten das eine Beinchen
umfassend, mit ihrer Linken den Oberkörper stützend. Das Haupt sacht
nach rechts geneigt, blickt die Gottesmutter in Richtung des Betrachters
nieder. An Ärmeln und Halsausschnitt des roten Kleides wird ein weißes
Hemd sichtbar. Vor der Brust hält eine goldfarbene Brosche die Saum-
bänder ihres blauen Umhangs zusammen. Die offenen, hellbraunen
Haare bedeckt ein transparentes Schleiertuch mit dünnem schwarzem
Saum. Auf dem Haupt sitzt eine goldfarbene Krone, deren Reif mit roten
und blauen Steinen besetzt ist, während die stilisierten Lilien, die den Reif
bekrönen, jeweils mit einer Perle abschließen. Das nackte Christuskind
zappelt im Schoß seiner Mutter, weist mit der Rechten tolpatschig in
Richtung des Betrachters und erprobt noch eher spielerisch den Segens-
gestus. Sein Blick geht nach links aus dem Bild hinaus.
Zur Rechten Mariens, jedoch schräg hinter ihrem Thronpodest, steht
der jugendlich-bartlose Heilige Martin. Im Dreiviertelprofil nach rechts
dargestellt, wendet er sich dem vor ihm hockenden bärtigen Bettler zu,
der ihm geradezu attributiv beigegeben ist: Sehr viel mehr als der zum
Heiligen aufblickende, struppige Kopf und die Linke, mit der er seine
Schale almosenheischend emporhält, sind von ihm nicht auszumachen.
Martin läßt ihm mit der Rechten einige Münzen in die Schale gleiten,
während er sich mit der Linken auf seinen Bischofsstab stützt. Als Bischof
trägt der Heilige Albe und Amikt, beide wie üblich in Weiß, eine fla-
schengrüne Dalmatika, darüber eine Glockenkasel aus dunkelblauem
Goldbrokat, die zinnoberrot gefüttert ist. Dieser Chormantel ist mit min-
destens zwei Reihen figürlicher Szenen dekoriert, die von gotischen
Architekturabbreviaturen eingetaßt und nach oben abgeschlossen wer-
den (Abb. 99). Da Martin seine Glockenkasel über die Arme zurückge-
schlagen hat, sind die einzelnen Szenen bzw. Motive größtenteils nur aus-
schnitthaft zu erkennen;7 allein eine Darstellung unterhalb von Martins
rechtem Unterarm läßt sich vollständig ablesen. Sie zeigt den Haupt-
mann von Kapharnaum, der anbetend vor Christus auf die Knie gefallen
ist.s Auch in der sich rechts unmittelbar anschließenden Szene ist in
einem Faltental eindeutig ein Kreuznimbus auszumachen, ebenso in
dem oberhalb dieser beiden Darstellungen befindlichen Bildfeld, das
möglicherweise die Verklärung Christi auf dem Berge Tabor zeigen soll.9
Unmittelbar links des Kaselstabes ist ein sich heftig bewegender Mann zu
erkennen, aus dessen Mund ein Mischwesen zu entweichen scheint, viel-
leicht die Darstellung der Heilung eines Besessenen.10 Anscheinend han-
delt es sich bei der Mehrzahl der Szenen, wenn nicht bei allen, um
Geschichten, die das öffentliche Wirken Jesu zum Thema haben. Der
Halsausschnitt von Martins Kasel ist von goldfarbenen Borten gesäumt,
in die Vierpässe mit eingestreuten stilisierten Blättern eingefügt sind. Der
sichtbare Abschnitt des Kaselstabs ist mit zwei hochrechteckigen Pas-
sionsszenen - Christus vor Pilatus" und der Dornenkrönung - unter
gotischen Ädikulen sowie einem Vierpaß mit einem Engel besetzt, der
Dornenkrone und Geißel hält. Hierbei soll es sich offenbar um ältere, für
diese Kasel wiederverwendete Stickereien auf goldtarbenem Webgrund
148 Holbeins Gemälde. Der Künstler als Tafelmaler in Basel, 1515-32