Holbein und Amerbach.
Ein Sammler definiert das Werk des Malers
Am Anfang aller »Holbein-Bilder« steht der Name eines Sammlers: Basi-
lius Amerbach (1533-91 [Abb. 13}). Seine Sammlung, Kern der Öffent-
lichen Kunstsammlung Basel, seine am selben Ort bewahrten Inventare
und seine darin enthaltenen Holbein-Zuschreibungen bilden bis heute
das Fundament jeder Beschäftigung mit dem »Baseler«, dem »voreng-
lischen« Werk Hans Holbeins. Doch obwohl mittlerweile allgemein
bekannt ist, daß die von Amerbach überlieferten Zuschreibungen erst
Jahrzehnte nach der Entstehung der betreffenden Werke niedergeschrie-
ben worden sind, obwohl vereinzelt immer wieder auf das Problem ihrer
Verläßlichkeit hingewiesen wird, gilt bis heute als nicht zu hinterfragende
Tatsache, daß das, was Basilius Amerbach als »Holbein« (oder, wenn sti-
listisch gar zu abweichend, als »frühen Holbein«) bezeichnet, auch Hol-
bein ist. Wie ist dieses Phänomen zu erklären, vor allem aber: Wie sind
Basilius' Inventarangaben tatsächlich zu bewerten?
Von keinem anderen deutschen Maler des Spätmittelalters oder der
frühen Neuzeit ist ein vergleichbar umfangreicher Werkkomplex seit
dem 16. Jahrhundert an seinem Entstehungsort erhalten geblieben wie
von den Malerbrüdern Hans und Ambrosius Holbein in Basel. Immer-
hin über zwanzig Gemälde des jüngeren Hans (sowie vier seines älteren
Bruders Ambrosius) gehören bis heute zum kostbarsten Besitz des Base-
ler Kunstmuseums.1 Sie sind nicht etwa als zusammenhängender Werk-
13 Hans Bock d.Ä., Bildnis des Basilius Amerbach, Basel, Kunstmuseum
komplex eines erst nachträglich in seine Einzelteile zerlegten Großauf-
trags entstanden, sondern als selbständige Einzelarbeiten, die die Hol-
bein-Brüder ab 1515 in Basel für die unterschiedlichsten Auftraggeber
und die unterschiedlichsten Verwendungszwecke geschaffen hatten -
Ambrosius bis zu seinem mutmaßlichen Tod 1519, Hans bis zur endgül-
tigen Übersiedlung nach England im Jahre 1532. Vom Kapitel der Mün-
sterkirche und dem Bürgermeister Basels spannt sich der Bogen der
Besteller über die Buchdrucker und Gelehrten zu den wohlhabenden
Handelskaufleuten und Bürgern der Stadt; sie orderten Werke, die wie
die bemalten Orgelflügel (Tafel 74, Abb. 243-244),2 die Altarflügel mit der
Passion Christi (Tafel 42)3 oder das Diptychon mit Christus im Elend
und Schmerzensmutter (Tafel 25-26)4 noch im Rahmen der traditionel-
len, religiös orientierten Kunstproduktion stehen, oder wie die Darstel-
lung von Venus und Amor (Tafel 54)5 oder »Lais Corinthiaca« (Tafel 53)6
schon den neuen Typus des humanistisch inspirierten »Sammlerbildes«
vertreten. Den Bedürfnissen der Zeit entsprechend finden sich zahlreiche
Bildnisse; aber auch Werke der »angewandten Kunst« wie das Schulmei-
sterschild (Tafel 16-17)7 oder die Devise des Verlegers Johannes Froben
(Abb. 282)8 sind innerhalb dieser vielfältigen Werkmischung anzutreffen.
Diese bemerkenswerte Vielfalt verdankt sich bekanntermaßen der Her-
kunft aus der Kunstkammer der Baseler Rechtsgelehrten Bonifacius
Amerbach (1495-1562), vor allem aber der seines Sohnes Basilius.9
Bonifacius Amerbach hatte sich als junger Mann von Holbein porträtie-
ren lassen (Tafel 24)10 und später als Nachlaßverwalter des Erasmus von
Rotterdam nachweislich das Baseler Bildnis des schreibenden Erasmus
(Tafel 27)11 (und offenbar noch ein weiteres Erasmus-Bildnis) in seinen
Besitz gebracht,12 doch erst sein Sohn und Erbe Basilius baute die heute
noch als »Amerbach-Kabinett« berühmte Kunstkammer und Bibliothek
auf,13 die auch fünfzehn Bilder Hans Holbeins d. J. und drei Gemälde von
Ambrosius umfaßte.14 Basilius war es auch, der diese Sammlung syste-
matisierte und inventarisierte15 und der ihr schließlich in den Jahren
1578-81 mit einem Anbau an sein Baseler Wohnhaus »Zum Kaiserstuhl«
einen eigenständigen Sammlungsbau errichtete.16
Doch das Amerbach-Kabinett wäre dank seiner erhaltenen Inventar-
verzeichnisse heute nur noch für Forschungen zur Frühgeschichte der
Kunstsammlung oder der Geschmacksbildung von Interesse, wäre es wie
so viele andere vergleichbare Kollektionen vergangener Jahrhunderte
wieder aufgelöst und zerstreut worden. Dieses Schicksal schien auch dem
Amerbach-Kabinett spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu
drohen, als der Großneffe Basilius Amerbachs, Basilius Iselin (1611-48)
erstmals über die Möglichkeit eines Verkaufs nachdachte.17 Die Samm-
lung war bis zu diesem Zeitpunkt unangetastet geblieben; sie war nach
Basilius Amerbachs Tod allerdings auch nicht mehr vermehrt worden.18
Spätestens im frühen 17. Jahrhundert waren die Baseler Holbein-Werke
ins Visier bedeutender internationaler Sammler und damit des Kunst-
marktes geraten. So ließ der große englische Holbein-Sammler Thomas
Howard, Earl of Arundel (1585-1646), im Jahre 1637 durch seinen Agen-
ten William Petty die Möglichkeit des Ankaufs von Holbein-Werken aus
dem Amerbach-Kabinett sondieren, darunter der Christus im Grabe
(Tafel 29),19 während vier Jahre später, 1641, der bayerische Kurfürst
36 »Holbein-Bilder«. Entstehung und Kritik
Ein Sammler definiert das Werk des Malers
Am Anfang aller »Holbein-Bilder« steht der Name eines Sammlers: Basi-
lius Amerbach (1533-91 [Abb. 13}). Seine Sammlung, Kern der Öffent-
lichen Kunstsammlung Basel, seine am selben Ort bewahrten Inventare
und seine darin enthaltenen Holbein-Zuschreibungen bilden bis heute
das Fundament jeder Beschäftigung mit dem »Baseler«, dem »voreng-
lischen« Werk Hans Holbeins. Doch obwohl mittlerweile allgemein
bekannt ist, daß die von Amerbach überlieferten Zuschreibungen erst
Jahrzehnte nach der Entstehung der betreffenden Werke niedergeschrie-
ben worden sind, obwohl vereinzelt immer wieder auf das Problem ihrer
Verläßlichkeit hingewiesen wird, gilt bis heute als nicht zu hinterfragende
Tatsache, daß das, was Basilius Amerbach als »Holbein« (oder, wenn sti-
listisch gar zu abweichend, als »frühen Holbein«) bezeichnet, auch Hol-
bein ist. Wie ist dieses Phänomen zu erklären, vor allem aber: Wie sind
Basilius' Inventarangaben tatsächlich zu bewerten?
Von keinem anderen deutschen Maler des Spätmittelalters oder der
frühen Neuzeit ist ein vergleichbar umfangreicher Werkkomplex seit
dem 16. Jahrhundert an seinem Entstehungsort erhalten geblieben wie
von den Malerbrüdern Hans und Ambrosius Holbein in Basel. Immer-
hin über zwanzig Gemälde des jüngeren Hans (sowie vier seines älteren
Bruders Ambrosius) gehören bis heute zum kostbarsten Besitz des Base-
ler Kunstmuseums.1 Sie sind nicht etwa als zusammenhängender Werk-
13 Hans Bock d.Ä., Bildnis des Basilius Amerbach, Basel, Kunstmuseum
komplex eines erst nachträglich in seine Einzelteile zerlegten Großauf-
trags entstanden, sondern als selbständige Einzelarbeiten, die die Hol-
bein-Brüder ab 1515 in Basel für die unterschiedlichsten Auftraggeber
und die unterschiedlichsten Verwendungszwecke geschaffen hatten -
Ambrosius bis zu seinem mutmaßlichen Tod 1519, Hans bis zur endgül-
tigen Übersiedlung nach England im Jahre 1532. Vom Kapitel der Mün-
sterkirche und dem Bürgermeister Basels spannt sich der Bogen der
Besteller über die Buchdrucker und Gelehrten zu den wohlhabenden
Handelskaufleuten und Bürgern der Stadt; sie orderten Werke, die wie
die bemalten Orgelflügel (Tafel 74, Abb. 243-244),2 die Altarflügel mit der
Passion Christi (Tafel 42)3 oder das Diptychon mit Christus im Elend
und Schmerzensmutter (Tafel 25-26)4 noch im Rahmen der traditionel-
len, religiös orientierten Kunstproduktion stehen, oder wie die Darstel-
lung von Venus und Amor (Tafel 54)5 oder »Lais Corinthiaca« (Tafel 53)6
schon den neuen Typus des humanistisch inspirierten »Sammlerbildes«
vertreten. Den Bedürfnissen der Zeit entsprechend finden sich zahlreiche
Bildnisse; aber auch Werke der »angewandten Kunst« wie das Schulmei-
sterschild (Tafel 16-17)7 oder die Devise des Verlegers Johannes Froben
(Abb. 282)8 sind innerhalb dieser vielfältigen Werkmischung anzutreffen.
Diese bemerkenswerte Vielfalt verdankt sich bekanntermaßen der Her-
kunft aus der Kunstkammer der Baseler Rechtsgelehrten Bonifacius
Amerbach (1495-1562), vor allem aber der seines Sohnes Basilius.9
Bonifacius Amerbach hatte sich als junger Mann von Holbein porträtie-
ren lassen (Tafel 24)10 und später als Nachlaßverwalter des Erasmus von
Rotterdam nachweislich das Baseler Bildnis des schreibenden Erasmus
(Tafel 27)11 (und offenbar noch ein weiteres Erasmus-Bildnis) in seinen
Besitz gebracht,12 doch erst sein Sohn und Erbe Basilius baute die heute
noch als »Amerbach-Kabinett« berühmte Kunstkammer und Bibliothek
auf,13 die auch fünfzehn Bilder Hans Holbeins d. J. und drei Gemälde von
Ambrosius umfaßte.14 Basilius war es auch, der diese Sammlung syste-
matisierte und inventarisierte15 und der ihr schließlich in den Jahren
1578-81 mit einem Anbau an sein Baseler Wohnhaus »Zum Kaiserstuhl«
einen eigenständigen Sammlungsbau errichtete.16
Doch das Amerbach-Kabinett wäre dank seiner erhaltenen Inventar-
verzeichnisse heute nur noch für Forschungen zur Frühgeschichte der
Kunstsammlung oder der Geschmacksbildung von Interesse, wäre es wie
so viele andere vergleichbare Kollektionen vergangener Jahrhunderte
wieder aufgelöst und zerstreut worden. Dieses Schicksal schien auch dem
Amerbach-Kabinett spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu
drohen, als der Großneffe Basilius Amerbachs, Basilius Iselin (1611-48)
erstmals über die Möglichkeit eines Verkaufs nachdachte.17 Die Samm-
lung war bis zu diesem Zeitpunkt unangetastet geblieben; sie war nach
Basilius Amerbachs Tod allerdings auch nicht mehr vermehrt worden.18
Spätestens im frühen 17. Jahrhundert waren die Baseler Holbein-Werke
ins Visier bedeutender internationaler Sammler und damit des Kunst-
marktes geraten. So ließ der große englische Holbein-Sammler Thomas
Howard, Earl of Arundel (1585-1646), im Jahre 1637 durch seinen Agen-
ten William Petty die Möglichkeit des Ankaufs von Holbein-Werken aus
dem Amerbach-Kabinett sondieren, darunter der Christus im Grabe
(Tafel 29),19 während vier Jahre später, 1641, der bayerische Kurfürst
36 »Holbein-Bilder«. Entstehung und Kritik