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Sander, Jochen; Holbein, Hans
Hans Holbein d. J.: Tafelmaler in Basel ; 1515 - 1532 — München, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.19342#0261

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dem sogenannten »Sturz«, die jüngere mit dem »Bündlein«, als verheira-
tete Bürgersfrauen gekennzeichnet, während die dritte im prachtvollen
weißen, mit schwarzer Zierstickerei versehenen Festtagskleid und dem
»Jungfernschapel«12 mit aufgesteckten frischen roten und weißen Nelken
sowie Rosmarinzweiglein13 als heiratsfähige junge Frau ausgewiesen ist
(Tafel 65). Die ältere verheiratete Frau trägt einen schwarzen gefältelten
Mantel mit weißem Krageneinsatz, die jüngere einen schwarzen Rock
mit Stehkragen und hellem Pelzfutter. Alle drei Frauen halten Gebets-
schnüre in den andächtig erhobenen Händen. Die Maria am nächsten
kniende der beiden verheirateten Frauen hat den Kopf kaum merklich
angehoben; sie scheint gedankenverloren auf den Leib der Gottesmutter
zu blicken. Bei ihr dürfte es sich um Magdalena Baer handeln, die bereits
im lahre 1511 verstorbene erste Ehefrau des Stifters. Die vor ihr
Kniende - die zweite, noch lebende Ehefrau Dorothea Kannengießer -
blickt zu ihrem Mann hinüber, das junge Mädchen, die gemeinsame
Tochter Anna, schaut mit gesenktem Blick zu dem nackten Knaben auf
der gegenüberliegenden Bildseite.

Ihren heute unangefochtenen Rang als eines der Hauptwerke Hans Hol-
beins d. J. hat sich die »Darmstädter Madonna«, deren Provenienz lück-
enlos nur bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, erst
mühsam erobern müssen. Als das Bild zu Beginn der 1820er Jahre erst-
mals wieder auftauchte, fand es mit der »Dresdener Madonna« (Abb. 22)
einen Doppelgänger vor, von dem seinerseits behauptet wurde, jenes
Gemälde Holbeins zu sein, das bereits im 17. Jahrhundert in der Kunstli-
teratur gefeiert worden war.14 Diese zweite Fassung der Komposition
befand sich schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Dresdener
Gemäldegalerie und erreichte gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts den Höhepunkt ihrer Popularität. Das Bild galt nicht nur als
bedeutendstes Werk Hans Holbeins d. J., es begründete zugleich seinen
Ruhm als »Raffael des Nordens«, welcher auch in der programmatischen
Hängung gegenüber der »Sixtinischen Madonna« in Dresden zum Aus-
druck gebracht wurde.15 So geriet der Streit um die Zuschreibung der
beiden Madonnenbilder in Dresden und Darmstadt in den Mittelpunkt
einer methodisch folgenreichen Kontroverse, die die damals noch junge
akademische deutsche Kunstgeschichte zu Anfang der 1870er Jahre aus-
zufechten hatte.16

Beide Gemälde erhoben den Anspruch, mit jener von Jakob Meyer
zum Hasen in Auftrag gegebenen Madonnentafel identisch zu sein, über
die der Baseler Jurist und Kunstsammler Remigius Faesch in seinen seit
dem Jahre 1628 zusammengestellten »Humanae Industriae Monu-
menta« berichtet hatte.17 Er hatte dies aus erster Hand tun können, war
das Gemälde doch lange Zeit im Besitz seiner direkten Vorfahren gewe-
sen: Sein gleichnamiger Großvater Remigius Faesch (1541-1610) hatte
die Tochter der auf dem Darmstädter Bild dargestellten Anna Meyer,
Rosina Irmi (1537-1609), geheiratet und war auf diese Weise in den
Besitz des Gemäldes gelangt. Er verkaufte es um das Jahr 1606 für 100
Goldkronen (»aureis solaribus«) an Johann Lucas Iselin (1553-1632),
der nicht mit Johann Ludwig Iselin (1559-1612), dem Neffen des Basi-
lius Amerbach und damit Erben des Amerbach-Kabinetts, zu verwech-
seln ist. Wie Faesch weiterhin berichtet, behauptete Lucas Iselin, das Bild
im Auftrag des Gesandten des französischen Königs zu erwerben. Tat-
sächlich blieb es aber in Iselins Besitz und wurde erst dessen Nachkom-
men in den 1630er Jahren für 1000 Gulden (»imperiales«) an den vor
allem in Amsterdam tätigen Kupferstecher und Kunsthändler Michel
LeBlon (1587-1656) verkauft. Doch spätestens an dieser Stelle wird die

schriftliche Überlieferung widersprüchlich: Behauptete Faesch, LeBlon
habe das Bild anschließend für 3000 Gulden an Maria de'Medici
(1573-1642), die von 1631-38 im Brüsseler Exil lebende Mutter des
französischen Königs Ludwig XIII., veräußert, so schrieb Joachim von
Sandrart im Jahre 1675, LeBlon habe das Gemälde für 3000 Gulden an
einen Amsterdamer Bankier namens Johann Lössert verkauft.18

Angesichts der Lücke in der Überlieferungsgeschichte konnte also
zunächst von jeder der beiden Gemäldefassungen behauptet werden, es
handle sich bei ihr um das von Hans Holbein für Bürgermeister Meyer
gemalte Originalwerk, als sie zu Anfang des 18. bzw. des 19. Jahrhunderts
»wiederentdeckt« und anschließend für Dresden bzw. zunächst für Ber-
lin, dann Darmstadt, erworben wurden.19 Für das Dresdener Madon-
nenbild schien zunächst seine größere Bekanntheit, vor allem aber seine
dem Geschmack des 19. Jahrhunderts entgegenkommende »Schön-
heit«20 zu sprechen, doch wurde die hohe künstlerische Qualität auch der
»Darmstädter Madonna« bereits unmittelbar nach deren Wiederauftau-
chen erkannt. So vermerkte schon Aloys Hirt, der im Jahre 1830 erstmals
auf das Darmstädter Bild hinwies:

»Beide Gemälde sind so vortrefflich, daß es schwer seyn möchte, einem
vor dem andern den Vorzug zu geben, und also eines für die Copie des
andern zu halten. Nur an eine Replik von demselben Meister lässt sich
denken; welches der beiden Gemälde aber die Replik sey, möchte auch
für den Erfahrensten eine schwere Aufgabe seyn. Das Einzige, das wir zu
bemerken glauben, ist, daß das Gemälde zu Berlin freyer, und in einigen
Köpfen, besonders der Weibergruppe, kräftiger behandelt sey, als das zu
Dresden.«21

Ergänzende Beobachtungen an der Dresdener Madonna machte Franz
Kugler 1845: »Bei längerem Verweilen vor dem Bilde konnte ich indeß
wegen einiger Punkte der Auffassung und besonders der technischen
Behandlungsweise, die mir auch schon früher, wenn gleich nicht so ent-
schieden, aufgefallen waren, ein Bedenken nicht unterdrücken. Der Kopf
der Madonna hat einen ganz eigenen Reiz, wie wir ihn kaum in einem
andern deutschen Bilde wiederfinden; aber es ist ein Anklang an
moderne Gefühlsweise, - ich möchte sagen: etwas der weiblichen Auffas-
sungsweise Verwandtes darin, was bei einem so energisch schaffenden
Meister wie Holbein fast befremdlich erscheinen dürfte. Dann gehen in
der Carnation zum Theil, namentlich in dem Körper des Christkindes
und auch bei der Madonna, grünliche Halbtöne hindurch, wie sie in sol-
cher Art wohl kaum anderweitig bei Holbein gefunden werden; verbun-
den mit den kühl röthlichen Lichtpartien in denselben Theilen der Car-
nation macht diese Behandlungsweise einen Eindruck, der in gewissem
Betracht schon an die Nachahmer der Italiener im 16. Jahrhundert
erinnert.«22

Hieraus zog Kugler nicht nur den Schluß, daß die »Darmstädter
Madonna« dem Dresdener Bild zeitlich vorausgegangen sein müsse, er
folgerte weiterhin, daß in Dresden nur die Stifterbildnisse, nicht aber die
Madonna von Holbein selbst stammen könnten, die er daher einem
Werkstattgehilfen zuschrieb.23 Die nachfolgende Forschung sollte zwar
an der Eigenhändigkeit beider Madonnenbilder zunächst festhalten,24 sie
folgte Kugler aber überwiegend in der Annahme einer Entstehung des
Darmstädter vor dem Dresdener Bild.25

Angesichts der bis in die 1870er Jahre in Deutschland anhaltenden Popu-
larität der Dresdener Madonna überrascht es nicht, daß die ersten
unmißverständlich kritischen Äußerungen über dieses Gemälde nicht
von einem deutschen, sondern von einem englischen Kunsthistoriker

Die »Darmstädter Madonna« 257
 
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