I. SANG VOM VERDERBEN DER WELT (1472)1
OHerr der Welt! Ich glaube an dein Walten,
Voll Ehrfurcht schau ich deiner Weisheit Schalten,
Und doch will mir so oft das Herz erkalten,
Seh’ ich das arge Treiben dieser Welt,
Der es an jeder Tugend gänzlich fehlt2.
Die Sünden bringen niemand mehr Erröten,
Und mancher hält dich, Gott, nicht mehr vonnöten.
Säumst du, zu dem Gericht dich zu erheben,
Vor dem die Höllenfürsten selbst erbeben,
Auf daß noch härtre Strafen wir erleben?
Auf ewig sind von Tugend wir verlassen,
Die Feinde Gottes schwelgen jetzt und prassen,
Die herben Mahner Cato sind verachtet,
Und Wollust nur und Laster sind geachtet.
Gewahrst du nicht den geckenhaften Toren?
Siehst du ihn nicht in Unzucht ganz verloren?
Zum Purpur Knabenschänder selbst erkoren?
Vor Hurenwirten liegt die Welt am Bauche,
Schweinen zu schmeicheln hat man heut im Brauche.
Die Speichellecker stehn in hohen Ehren, —
Der Fromme darf am Hungertuche zehren.
Von Raub und Diebstahl nähren sich die Reichen,
Die Armen müssen und die Witwen weichen,
Wenn Schurken frech ihr Erbe sich erschleichen.
Wenn du willst gelten, mußt du keck betrügen,
1 Savonarolas Gedichte sind uns in zwei handschriftlichen Sammlungen
überliefert, von welchen die eine von ihm selbst, die andere von seinem
getreuen Schüler Bruder Benedikt Luschino veranstaltet wurde; beide geben
das Jahr 1472 als Abfassungszeit an. Die Gedichte wurden durch den Druck
veröffentlicht von Audin de Rians, Poesie di Jeronimo Savonarola. Firenze
1847; (C. Guasti e C. Capponi) Poesie di F. Gir. Sav. Firenze 1862. Vgl. auch
Cavicchi, Le Rime di Fr. Gir. Sav. Ferrara 1898. Ausdrücklich sei hier be-
merkt, daß der kunstvolle Strophenbau des Urtextes in der Übersetzung, der
es lediglich um den Inhalt zu tun war, nicht festgehalten wurde. 2 Diese
Worte sind natürlich nicht, wie es geschehen ist, zu pressen; der Sänger an-
erkennt das noch vorhandene Gute andernorts wiederholt.
1 Savonarola
I
OHerr der Welt! Ich glaube an dein Walten,
Voll Ehrfurcht schau ich deiner Weisheit Schalten,
Und doch will mir so oft das Herz erkalten,
Seh’ ich das arge Treiben dieser Welt,
Der es an jeder Tugend gänzlich fehlt2.
Die Sünden bringen niemand mehr Erröten,
Und mancher hält dich, Gott, nicht mehr vonnöten.
Säumst du, zu dem Gericht dich zu erheben,
Vor dem die Höllenfürsten selbst erbeben,
Auf daß noch härtre Strafen wir erleben?
Auf ewig sind von Tugend wir verlassen,
Die Feinde Gottes schwelgen jetzt und prassen,
Die herben Mahner Cato sind verachtet,
Und Wollust nur und Laster sind geachtet.
Gewahrst du nicht den geckenhaften Toren?
Siehst du ihn nicht in Unzucht ganz verloren?
Zum Purpur Knabenschänder selbst erkoren?
Vor Hurenwirten liegt die Welt am Bauche,
Schweinen zu schmeicheln hat man heut im Brauche.
Die Speichellecker stehn in hohen Ehren, —
Der Fromme darf am Hungertuche zehren.
Von Raub und Diebstahl nähren sich die Reichen,
Die Armen müssen und die Witwen weichen,
Wenn Schurken frech ihr Erbe sich erschleichen.
Wenn du willst gelten, mußt du keck betrügen,
1 Savonarolas Gedichte sind uns in zwei handschriftlichen Sammlungen
überliefert, von welchen die eine von ihm selbst, die andere von seinem
getreuen Schüler Bruder Benedikt Luschino veranstaltet wurde; beide geben
das Jahr 1472 als Abfassungszeit an. Die Gedichte wurden durch den Druck
veröffentlicht von Audin de Rians, Poesie di Jeronimo Savonarola. Firenze
1847; (C. Guasti e C. Capponi) Poesie di F. Gir. Sav. Firenze 1862. Vgl. auch
Cavicchi, Le Rime di Fr. Gir. Sav. Ferrara 1898. Ausdrücklich sei hier be-
merkt, daß der kunstvolle Strophenbau des Urtextes in der Übersetzung, der
es lediglich um den Inhalt zu tun war, nicht festgehalten wurde. 2 Diese
Worte sind natürlich nicht, wie es geschehen ist, zu pressen; der Sänger an-
erkennt das noch vorhandene Gute andernorts wiederholt.
1 Savonarola
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