XII. AUS DER XXII. PREDIGT ÜBER JOB1,
gehalten am Dienstage nach dem dritten Fastensonntage,
24. März 1495. Marienpredigt.
. . . Du könntest mich fragen, warum ich über die seligste Jungfrau,
welche doch aus allen Kräften gepriesen zu werden verdient, so
selten predige. Da stelle ich nun zuerst die Gegenfrage an dich:
Warum erwähnt sie der Hl. Geist so selten in der Hl. Schrift? Und
warum predigten die ersten Heiligen nicht oder doch nur selten über
sie? Und wenn du mir entgegnest, die Gläubigen von heutzutage
hegten eben eine größere Andacht zu ihr als unsere ersten Heiligen
und alten Väter, so trifft das keineswegs zu und ist nicht zu glauben,
und dennoch schrieben die Apostel nicht über sie oder nur wenig,
obschon sie ihr so große Liebe und Verehrung entgegenbrachten.
Sage mir, wie kommt dies? Was sollen wir sagen? Die Apostel
schrieben nicht über die Jungfrau, weil unser Heil vom Glauben an
Christus abhängt; da ihr Sinn einzig darauf gerichtet war, so pre-
digten sie alle nichts anderes als Christus. Überdies waren sie von
Gott in einer Weise erleuchtet, daß ihr Herz nur immer von ihm
und nicht von den Geschöpfen in Anspruch genommen war; dank
ihrer besonderen Erleuchtung hatten also die Apostel diesen Köder
nicht nötig, um die Leute zum Glauben anzufeuern, obschon sie
gleichwohl stets die größte Liebe und Verehrung für sie empfanden.
Hätten sodann die Apostel das Lob der Jungfrau verkündet und von
ihrer tiefen Demut, unermeßlichen Liebe und ihren anderen unend-
lichen Tugenden geschrieben, so hätten die Gläubigen vielleicht
lieber das Evangelium von der Jungfrau als von Christus gelesen
und sie mit göttlichen Ehren bedacht. Die Andacht zur Jungfrau ist
sehr groß; sogar Bösewichter scheuen und schrecken am ehesten
noch vor einer Lästerung der Jungfrau zurück. Und darum ließen
es sich die Apostel angelegen sein, Christus zu preisen und zu rühmen
sowie zu beweisen, er allein sei Gott und der zur Erlösung der Welt
gesandte Messias, und sonst niemand. Mein Bemühen ging nun, wie
du schon seit Jahren gesehen hast, immer nur dahin, die Schrift zu
predigen; und da diese von der Jungfrau nur selten spricht, so hatte
ich keinen Anlaß, mich mit ihr viel zu beschäftigen, du darfst dich
also darüber nicht wundern. Allerdings muß ich gestehen, daß in
1 Prediche sopra Job del R. P. Hieronimo Savonarola da Ferrara. Venezia
1545. F. 187 b ff.
9 Savonarola
129
gehalten am Dienstage nach dem dritten Fastensonntage,
24. März 1495. Marienpredigt.
. . . Du könntest mich fragen, warum ich über die seligste Jungfrau,
welche doch aus allen Kräften gepriesen zu werden verdient, so
selten predige. Da stelle ich nun zuerst die Gegenfrage an dich:
Warum erwähnt sie der Hl. Geist so selten in der Hl. Schrift? Und
warum predigten die ersten Heiligen nicht oder doch nur selten über
sie? Und wenn du mir entgegnest, die Gläubigen von heutzutage
hegten eben eine größere Andacht zu ihr als unsere ersten Heiligen
und alten Väter, so trifft das keineswegs zu und ist nicht zu glauben,
und dennoch schrieben die Apostel nicht über sie oder nur wenig,
obschon sie ihr so große Liebe und Verehrung entgegenbrachten.
Sage mir, wie kommt dies? Was sollen wir sagen? Die Apostel
schrieben nicht über die Jungfrau, weil unser Heil vom Glauben an
Christus abhängt; da ihr Sinn einzig darauf gerichtet war, so pre-
digten sie alle nichts anderes als Christus. Überdies waren sie von
Gott in einer Weise erleuchtet, daß ihr Herz nur immer von ihm
und nicht von den Geschöpfen in Anspruch genommen war; dank
ihrer besonderen Erleuchtung hatten also die Apostel diesen Köder
nicht nötig, um die Leute zum Glauben anzufeuern, obschon sie
gleichwohl stets die größte Liebe und Verehrung für sie empfanden.
Hätten sodann die Apostel das Lob der Jungfrau verkündet und von
ihrer tiefen Demut, unermeßlichen Liebe und ihren anderen unend-
lichen Tugenden geschrieben, so hätten die Gläubigen vielleicht
lieber das Evangelium von der Jungfrau als von Christus gelesen
und sie mit göttlichen Ehren bedacht. Die Andacht zur Jungfrau ist
sehr groß; sogar Bösewichter scheuen und schrecken am ehesten
noch vor einer Lästerung der Jungfrau zurück. Und darum ließen
es sich die Apostel angelegen sein, Christus zu preisen und zu rühmen
sowie zu beweisen, er allein sei Gott und der zur Erlösung der Welt
gesandte Messias, und sonst niemand. Mein Bemühen ging nun, wie
du schon seit Jahren gesehen hast, immer nur dahin, die Schrift zu
predigen; und da diese von der Jungfrau nur selten spricht, so hatte
ich keinen Anlaß, mich mit ihr viel zu beschäftigen, du darfst dich
also darüber nicht wundern. Allerdings muß ich gestehen, daß in
1 Prediche sopra Job del R. P. Hieronimo Savonarola da Ferrara. Venezia
1545. F. 187 b ff.
9 Savonarola
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