der Kopf schon auf dem Blocke liegt, wird sie noch sprechen1. Die
Söhne Israels müssen noch etwas leiden, wir sind noch nicht außer
Gefahr. Dir aber, o Herr, empfehle ich diese guten Bürger, obschon
sie ihre volle Schuldigkeit nicht getan haben. Ich bitte dich, o Herr,
du wollest alle die Trübsal, welche du ihnen zugedacht hättest, mir
auferlegen und meinen Brüdern, wir nehmen sie gerne auf uns. Der
Segen des Herrn sei über euch! Amen.
XXI. AUS DER LETZTEN PREDIGT2,
gehalten am dritten Fastensonntage, 18. März 1498, in S. Marco
. . In der Welt Christi sind die Oberen teils mit allumfassender,
teils mit besonderer Gewalt ausgestattet. Allumfassende Gewalt hat
der Papst, der Bischof hat eine weniger umfassende, der Pfarrer eine
noch geringere zur Verwaltung seiner Gemeinde, jeder einzelne
Gläubige eine solche zur Sorge für seine Seele. Alle diese Gewalten
der Welt Christi sind von ihm in seiner Weisheit fest miteinander
verbunden und verkettet. Entsteht nun in dieser Welt unter den
niederen Gewalten eine Unordnung, so tritt die allgemeine in Krast,
so daß die Welt durch keine Lücke verunstaltet wird; ja eher fließt
das Wasser, was seiner Natur widerstrebt, aufwärts, als daß im Welt-
all eine Lücke entstünde, welche die Natur verabscheut. Wenn aber
alles versagt und auch die höchste Gewalt keine Fürsorge trifft, dann
bleibt als letztes Heilmittel nur mehr die Zuflucht zu Gott, der aller-
höchsten Gewalt, übrig. Du siehst also, um alle Unordnung hint-
anzuhalten, tritt, wo die besondere Gewalt versagt, die höhere mit
ihrer Fürsorge ein. Sage mir nun aber, wenn auch die höchste Ge-
walt angesteckt und befleckt und den schlechtesten Einflüssen aus-
gesetzt wäre, was hätte dann zu geschehen? Antwort: Dann dürfte
man zu ihr nicht nur nicht seine Zuflucht nehmen, sondern man
müßte sie meiden und ihr Widerstand leisten. Wenn z. B. die Luft
verdorben und verpestet ist, so fliehst du sie und stellst dich ans
Feuer und erwehrst dich so ihrer. Ebenso wenn im Sommer jene
1 Wie denn der Frate noch im Kerker unmittelbar vor seinem Tode die Be-
trachtungen über die Psalmen „Miserere1 ‘ und,,In te, Domine, speravi' ‘ schrieb.
2 Prediche de Fra Hieronymo sopra l’Exodo. Sermo XXII, f. 228bff. Teil-
weise deutsche Übersetzung von Wilh. von Langsdorff, Die Predigt der Kirche
146ff.; Hiltgart Schottmüller, Predigten ii4ff. Wie Lorenz Violi in seiner
Apologie des Frate, Settima giornata, berichtet, nannten die Piagnonen diese
letzte Predigt die „predica del suo testamento“.
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Söhne Israels müssen noch etwas leiden, wir sind noch nicht außer
Gefahr. Dir aber, o Herr, empfehle ich diese guten Bürger, obschon
sie ihre volle Schuldigkeit nicht getan haben. Ich bitte dich, o Herr,
du wollest alle die Trübsal, welche du ihnen zugedacht hättest, mir
auferlegen und meinen Brüdern, wir nehmen sie gerne auf uns. Der
Segen des Herrn sei über euch! Amen.
XXI. AUS DER LETZTEN PREDIGT2,
gehalten am dritten Fastensonntage, 18. März 1498, in S. Marco
. . In der Welt Christi sind die Oberen teils mit allumfassender,
teils mit besonderer Gewalt ausgestattet. Allumfassende Gewalt hat
der Papst, der Bischof hat eine weniger umfassende, der Pfarrer eine
noch geringere zur Verwaltung seiner Gemeinde, jeder einzelne
Gläubige eine solche zur Sorge für seine Seele. Alle diese Gewalten
der Welt Christi sind von ihm in seiner Weisheit fest miteinander
verbunden und verkettet. Entsteht nun in dieser Welt unter den
niederen Gewalten eine Unordnung, so tritt die allgemeine in Krast,
so daß die Welt durch keine Lücke verunstaltet wird; ja eher fließt
das Wasser, was seiner Natur widerstrebt, aufwärts, als daß im Welt-
all eine Lücke entstünde, welche die Natur verabscheut. Wenn aber
alles versagt und auch die höchste Gewalt keine Fürsorge trifft, dann
bleibt als letztes Heilmittel nur mehr die Zuflucht zu Gott, der aller-
höchsten Gewalt, übrig. Du siehst also, um alle Unordnung hint-
anzuhalten, tritt, wo die besondere Gewalt versagt, die höhere mit
ihrer Fürsorge ein. Sage mir nun aber, wenn auch die höchste Ge-
walt angesteckt und befleckt und den schlechtesten Einflüssen aus-
gesetzt wäre, was hätte dann zu geschehen? Antwort: Dann dürfte
man zu ihr nicht nur nicht seine Zuflucht nehmen, sondern man
müßte sie meiden und ihr Widerstand leisten. Wenn z. B. die Luft
verdorben und verpestet ist, so fliehst du sie und stellst dich ans
Feuer und erwehrst dich so ihrer. Ebenso wenn im Sommer jene
1 Wie denn der Frate noch im Kerker unmittelbar vor seinem Tode die Be-
trachtungen über die Psalmen „Miserere1 ‘ und,,In te, Domine, speravi' ‘ schrieb.
2 Prediche de Fra Hieronymo sopra l’Exodo. Sermo XXII, f. 228bff. Teil-
weise deutsche Übersetzung von Wilh. von Langsdorff, Die Predigt der Kirche
146ff.; Hiltgart Schottmüller, Predigten ii4ff. Wie Lorenz Violi in seiner
Apologie des Frate, Settima giornata, berichtet, nannten die Piagnonen diese
letzte Predigt die „predica del suo testamento“.
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