XIII. AUS DER XII. PREDIGT ÜBER AMOS1,
gehalten am zweiten Fastensonntage, 28. Februar 1496,
im Dome zu Florenz
Über das römische Dirnenunwesen und über die Zeremonien
(Die Predigt steht auf dem Index)
. . . Du wunderst dich darüber, daß manchmal einer nicht glaubt;
betrachte ihren Wandel, betrachte ihr Betragen! Ein Wunder wäre
es, wenn sie bei solchem Leben glaubten! Siehe hier einen Blinden,
welcher die Sehkraft verloren hat. Du wunderst dich nicht, daß er
nicht sieht, wäre es doch vielmehr ein Wunder, wenn er ohne Seh-
kraft zu sehen vermöchte. Wenn einer schlecht lebt, so ist es un-
möglich, daß er einen lebendigen Glauben habe. So wird auch ein
Blinder, wenn du ihm nicht den Star stichst, nicht sehen können.
Die Sünde der Unzucht macht auf zwei Arten blind. Einmal weil
dieses Laster in jenen, welche ihm frönen, mit besonderer Heftig-
keit wirkt, denn alle Seelenkräfte wurzeln in der einen Seelensub-
stanz, und wenn daher eine von ihnen stark wirkt, so zieht sie die
ganze Seele in Mitleidenschaft. Wenn einer das Auge schließt, um
(mit dem anderen) zu sehen, so mindert er die Wirkung aller
anderen Seelenkräfte durch dieses (gespannte) Sehen, denn manch-
mal hört er dann nicht. Nun gibt es im sinnlichen Teile keine Kraft,
welche die Wirkung der anderen Seelenkräfte, besonders der Ver-
nunftkräfte, so sehr aufhebt wie der Gefühlssinn bei geschlecht-
lichen Handlungen, weshalb ja auch der Philosoph (Aristoteles)
sagt, in ihnen sei es unmöglich, (philosophischer) Betrachtung zu
obliegen. Andererseits gibt es wider diesen geschlechtlichen Hang
kein besseres Heilmittel als eben die Betrachtung göttlicher Dinge,
da sie die Seele und alle ihre Kräfte in Beschlag nimmt; du magst
Buße tun, solange du willst, du wirst nichts finden, was die Seele
so sehr beansprucht. Der Geschlechtstrieb ist ungemein stark, denn
er ist den Lebewesen zur Erhaltung ihrer Art gegeben, und da er
sich in körperlichen Dingen auswirkt, so lenkt er alle Sinne auf sie
hin. Wundere dich darum nicht, wenn die Wollüstigen nicht glauben,
all ihr natürliches Urteil verlieren und alle Verstandestätigkeiten
beflecken. So verlaufen z. B. unsere Geschäfte in vier Verstandes-
1 Prediche de Fra Hieronymo sopra Amos propheta. Venezia 1528. Sermo
duodecimus. f. 6iff.
9* 131
gehalten am zweiten Fastensonntage, 28. Februar 1496,
im Dome zu Florenz
Über das römische Dirnenunwesen und über die Zeremonien
(Die Predigt steht auf dem Index)
. . . Du wunderst dich darüber, daß manchmal einer nicht glaubt;
betrachte ihren Wandel, betrachte ihr Betragen! Ein Wunder wäre
es, wenn sie bei solchem Leben glaubten! Siehe hier einen Blinden,
welcher die Sehkraft verloren hat. Du wunderst dich nicht, daß er
nicht sieht, wäre es doch vielmehr ein Wunder, wenn er ohne Seh-
kraft zu sehen vermöchte. Wenn einer schlecht lebt, so ist es un-
möglich, daß er einen lebendigen Glauben habe. So wird auch ein
Blinder, wenn du ihm nicht den Star stichst, nicht sehen können.
Die Sünde der Unzucht macht auf zwei Arten blind. Einmal weil
dieses Laster in jenen, welche ihm frönen, mit besonderer Heftig-
keit wirkt, denn alle Seelenkräfte wurzeln in der einen Seelensub-
stanz, und wenn daher eine von ihnen stark wirkt, so zieht sie die
ganze Seele in Mitleidenschaft. Wenn einer das Auge schließt, um
(mit dem anderen) zu sehen, so mindert er die Wirkung aller
anderen Seelenkräfte durch dieses (gespannte) Sehen, denn manch-
mal hört er dann nicht. Nun gibt es im sinnlichen Teile keine Kraft,
welche die Wirkung der anderen Seelenkräfte, besonders der Ver-
nunftkräfte, so sehr aufhebt wie der Gefühlssinn bei geschlecht-
lichen Handlungen, weshalb ja auch der Philosoph (Aristoteles)
sagt, in ihnen sei es unmöglich, (philosophischer) Betrachtung zu
obliegen. Andererseits gibt es wider diesen geschlechtlichen Hang
kein besseres Heilmittel als eben die Betrachtung göttlicher Dinge,
da sie die Seele und alle ihre Kräfte in Beschlag nimmt; du magst
Buße tun, solange du willst, du wirst nichts finden, was die Seele
so sehr beansprucht. Der Geschlechtstrieb ist ungemein stark, denn
er ist den Lebewesen zur Erhaltung ihrer Art gegeben, und da er
sich in körperlichen Dingen auswirkt, so lenkt er alle Sinne auf sie
hin. Wundere dich darum nicht, wenn die Wollüstigen nicht glauben,
all ihr natürliches Urteil verlieren und alle Verstandestätigkeiten
beflecken. So verlaufen z. B. unsere Geschäfte in vier Verstandes-
1 Prediche de Fra Hieronymo sopra Amos propheta. Venezia 1528. Sermo
duodecimus. f. 6iff.
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