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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0282

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278 BESPRECHUNGEN.

überzeugt, daß die Klärung der von ihm angeregten Grundfragen nicht wichtig genug
genommen werden kann. Indem Worringer zwei Begriffe als Grundprinzipien auf-
stellt, wagt er sich nur mit einem Schritt über die Armut des einen Erklärungs-
grundes hinaus und wird zu gezwungenen Deutungen des künstlerischen Entwick-
lungsganges der Menschheit geführt. Vor allem aber, er wird dadurch unoriginell,
insofern mit Abstraktion und Einfühlung nur neue Namen eingeführt werden an
Stelle der alten von Form und Gehalt. Er löst den Streit zwischen Form und
Inhaltsästhetik, zwischen Schönheit und Ausdruck, indem er statt des Entweder-oder
ein Sowohl-als-auch setzt.

Die neuen Termini vermögen wir nicht für glücklich zu halten.

Wir wenden uns zunächst gegen den Ausdruck »Abstraktion«. Unter Abstrak-
tion verstehen wir doch den logischen Prozeß, an einem komplexen Gegenstand
nur gewisse Seiten zu beachten, sie an anderen Gegenständen wiederzufinden, zu
vergleichen und zu benennen. So können wir wohl an einem Menschen die Form,
das Äußere für sich betrachten, vom Leben absehen, aber das, was Worringer meint,
die kristallinische Regelmäßigkeit, entstellt nicht durch diesen Prozeß der Abstraktion,
dem als Hauptfunktion die Analyse zugrunde liegt. In diesen Regelmäßigkeiten
äußert sich sowohl von Seiten der künstlerischen Produktion wie der ästhetischen
Auffassung am stärksten die Synthese, die beziehende Tätigkeit des Vereinens,
Abwägens, Ausgleichens und Harmonisierens. Die ältere Formulierung »Form und
Inhalt« trifft das, was Worringer will, besser als seine Terminologie. Immerhin be-
greift man das Bemühen, verbrauchte Worte durch unverbrauchte zu ersetzen. Ich
würde deshalb vorschlagen, die Kunst, die Worringer als Abstraktion bezeichnet,
regulierende Gestaltung zu nennen. Dann ist aber der Gegensatz nicht Einfühlung,
sondern individualisierende Gestaltung. Denn nicht das Mehr an Leben unter-
scheidet den Kieselstein vom Kristall, sondern das Mehr an Individualität, das wegen
seiner Interessantheit — man denke etwa an die individuelle Färbung eines Halb-
edelsteines — ebenso Gegenstand der Kunst sein kann wie die stereometrische Form.

Gehen wir vom Begriff der Einfühlung aus und verstehen darunter mit Wor-
ringer die Darstellung des Organisch-Lebendigen oder Beseelten, so ist wiederum
der Gegensatz das Leblose überhaupt, das Äußere im Gegensatz zum Innerlichen.
Dieses Äußere aber wird durch Darstellung von schönen Stoffen, von Farben-
akkorden im Stilleben ebensogut Gegenstand der Kunst wie durch Darstellung geo-
metrisch-stereometrischer Formen plastischer Art.

Ja die Einfühlungstheoretiker könnten noch weiter gehen und behaupten, Linie
und Form im körperlichen Sinne wären gar nicht so sehr der Einfühlung enthoben
wie Stoff und Farbe. Ich verweise auf meine Aufsätze über das Wesen des
Plastischen (diese Zeitschrift III, 1. 2), in denen ich die Beziehungen zwischen
optischen Eindrücken und Bewegungsvorstellungen (Tätigkeiten) nachzuweisen ver-
sucht habe, die bei der Auffassung von Linien und Formen in Betracht kommen.
In der Tat ist ja die ganze Einfühlungstheorie dem Bedürfnis entsprungen, das
Leblose und Formale interessant und poetisch zu machen, indem man sich auf solche
Erfahrungen beim Nachzeichnen einer Linie, Abtasten eines Körpers beruft.

Steht aber die Beteiligung solcher motorischen Erlebnisse bei der Auffassung
von Formen und Linien fest, dann vermögen wir den Gegensatz zum Abstrakten
(im Worringerschen Sinne), d. h. zum Regelmäßigen nicht schon dort zu sehen, wo
die motorischen Erlebnisse von der äußeren Form in das Innere des Menschen
hineinverlegt werden, wie bei klassischen griechischen Plastiken, sondern auch diese
Abgewogenheit und Gleichgewichtssymmetrie in Haltung und Bewegung strenger
griechischer Statuen ist Form, Konstruktion, Architektonik. Und wie soll man die
 
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