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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0284

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280 ■ BESPRECHUNGEN.

Poetisiening des Unpoetischen, Umsetzung von Eindrücken der bildenden oder
Tonkunst in das Material der Sprache, also Dichtung. Indem die Einfühlung
schließlich auf alle Kunsterlebnisse ausgedehnt wird, verwischt sie nicht nur die
Grenzen zwischen optischen, akustischen Eindrücken und motorischen, sondern
sogar innerhalb der poetischen Sphäre der Darstellung menschlicher Verhältnisse,
wo sie doch ganz am Platze scheint, den Gegensatz von bloß verstehendem Zu-
schauen gefühlvoller Situationen und miterlebendem (einfühlendem), dramatisch-
lyrischem Teilnehmen oder Parteinehmen. Also selbst für die Erklärung der Wirkung
gefühlvoller Szenen ist die Einfühlungstheorie unbrauchbar.

Worringer setzt schließlich die Begriffe Abstraktion und Einfühlung den Begriffen
Stil und Naturalismus gleich, indem er offenbar bei Stil den Begriff des Stilisierens
als regelmäßiger, mathematischer Gestaltung von in der Natur individuell gestalteten
Dingen heranzieht. Stil wäre dann also das Aloment des Regulierens, im Sinne
Worringers des Abstrahierens, das wie die Mathematik reines Geistesprodukt ist.
Wo es sich dagegen um Darstellung des Organisch-Lebenswahren handelt, werden
die Inhalte solcher Darstellungen solche sein, die auch von der Natur dargeboten
werden. Obwohl es sich beim Naturalismus auch um künstlerische Formung han-
delt, um Gestaltung eines ästhetisch wirksamen Eindruckes, so ist der Schein des
Imitativen, der Naturnachahmung hier doch stärker als in der Stilkunst. Das Wesent-
liche und eigentlich Künstlerische liegt aber nach Worringer nicht in der Wieder-
gabe des Naturvorbildes, sondern in der künstlerischen Gestaltung des Organisch-
Lebenswahren.

Zunächst möchte ich betonen, daß der Kernpunkt dieser Unterscheidung, Un-
abhängigkeit vom Naturvorbild und Ähnlichkeit mit einem solchen, besser durch das
Gegensatzpaar von formenbildender Kunst (Musik, Ornament) und darstellen-
der Kunst (Malerei, Poesie) gegeben wird, oder durch Bildung (Formung) und Ab-
bildung. Dieser Gegensatz deckt sich aber weder mit dem von Abstraktion und
Einfühlung noch mit dem von Stil und Naturalismus. Ein holländisches Geräte-
stilleben ist Darstellung, in gewissem Sinne Naturnachahmung, aber nicht Einfühlung,
ein romanisches Ornament ist Formenbildung.

Aber auch die Begriffe Stil und Naturalismus verlieren ihre Bedeutung durch
Identifizierung mit Abstraktion und Einfühlung. Die Hille Bobbe von Franz Hals
vermag ich nicht stillos zu nennen, und man weiß sofort warum, wenn ich Stil die
Übereinstimmung aller an einem Kunstwerk beteiligten Faktoren zu einem einheit-
lichen Eindruck, einer Gesamtwirkung nenne. Das wird der gangbaren Bedeutung
des Wortes am gerechtesten werden. Daß man aber ein Recht hat, Naturalismus
als Stillosigkeit, also als Gegensatz von Stil aufzufassen, geht aus folgender Er-
wägung hervor. Die Nachahmung des natürlichen Anblickes der Dinge, das bloße
Abmalen führt sowohl zur Übernahme zufällig gegebener, in nichts zusammen-
stimmender Dinge in ein Bild, denn die Natur ist — seltene Fälle ausgenommen —
stillos, als auch zur deutlichen Ausmalung aller Stellen im Bilde. Dies wiederum
entspricht einem im praktischen Leben geübten, unästhetischen Sehen, von einer
Stelle zur anderen zu blicken und des Erkennens wegen die einzelnen Dinge nach-
einander in die Stelle des deutlichsten Sehens zu rücken. Also auch da stilloses,
uneinheitliches Sehen. Und daher das Recht, jede uneinheitliche Darstellung als
naturalistischer Tendenz entsprechend anzusehen.

Auf diese Identifizierung von Stil mit Abstraktion, Einfühlung mit Naturalismus
dürfen wir Worringers eigene Worte anwenden: >Als ob nicht jede dieser voll-
ständig verschiedenen Kunstäußerungen eine entsprechende Terminologie verlange,
die auf die andere angewandt zu Absurditäten führte.
 
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