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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0477

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BESPRECHUNGEN. 473

zone so gleichmäßig füllen, wie die Doppelschicht in der Tiefe. Das ist wichtig
zum Verständnis von Reliefs des Niccolo Pisano oder der Frühgotik (z. B. am Straß-
burger Münster).

Es ist klar, daß die umgekehrte Perspektive ein so komplizierter Prozeß ist,
eine so vorstellungsmäßige Kenntnis der Perspektive voraussetzt, daß wir sie nicht
■n einer Zeit als vorhanden annehmen dürfen, der jede perspektivische Konstruktion
überhaupt fehlt. Wenn Wulff sagt: »Sie gibt an dem besagten Relief des Theodosius-
sockels diesen Zusammenhang mehr für unser Gefühl als für unser optisches Illu-
sionsbedürfnis in einer Komposition wieder, die sich noch immer auf der Grundlage
von Flächenrelationen in halbdekorativer Symmetrie aufbaut, deren optischen Sinn
aber jeder zum mindesten dunkel empfindet, der sich mit einiger Aufmerksamkeit
m die Betrachtung des Bildwerkes vertieft-, so offenbart sich diese Ahnung als
Hineintragen des Wissens eines modern perspektivisch geschulten Beobachters in
eine gänzlich heterogene Darstellungsform.

Zwei Beispiele, auf die auch Wulff Wert legt, heben wir hier hervor. Zunächst
die Darstellung aus dem Virgilkodex der Vaticana. Aeneas und Achates sehen von
einer Anhöhe zur Linken des Bildes auf die Erbauung Karthagos herab, eine Illu-
stration zu den Worten aus der Aeneis:

Und schon steigen den Hügel sie aufwärts, welcher die Stadt hoch
Überragt und das Antlitz der Burg anschauet von oben, —
Staunend erblickt Aeneas den Bau.
Hier interpretiert Wulff so: »Weil es sich um ein Herabsehen handelt, hat der
Künstler die Stadt in so starker Aufsicht und auch die unterhalb des Standpunktes
der beiden befindlichen Werkleute gleichsam aus der Vogelperspektive in denselben
Weinen Verhältnissen wie die innerhalb der Ringmauern sichtbaren, die Helden da-
gegen fast in doppelter Größe dargestellt.« Das Beispiel ist deshalb interessant,
Weü es sich wirklich um eine Darstellung des Sehens handelt. Aeneas erblickt den
Bau, und die Deutung von Sehendem und in der Entfernung klein von ihm Erblicktem
erscheint berechtigt. Dennoch ist gegen diese Auffassung zu sagen: die Ansicht
der Stadt in Aufsicht oder vielmehr in senkrechter Staffelung — die hinteren Par-
tien der Stadt sind einfach über die vorderen senkrecht erhoben — ist vom Stand-
Punkte des Betrachters der Miniatur entworfen, nicht von dem des Aeneas. Zwischen
. m Maßstab der Helden und dem der Handwerker steht noch der eines Aufsehers
"n mittlerer Größe, d. h. die Größenunterschiede sind nicht optische, vom Standpunkt
es Aeneas, sondern zeremonielle, Rangstufen, für den Betrachter berechnet. Zuletzt
[ noch hervorgehoben, daß die beiden Helden stark en face, nur mit dem Kopf
tuen zur Stadt hingewendet, gegeben sind, also auch repräsentativ dem Betrachter
entgegengestellt.

Tu zweite Beispiel ist der Wiener Genesis entnommen. Pharao sitzt auf dem

r°n höher als eine Reihe von kleinen Figuren, die im Halbkreis vom Rücken

gesehen am vorderen Rande des Bildes stehen und selbst in der Größe abgestuft

"• Rechts davon, etwas tiefer, steht Joseph, in gleicher Größe mit Pharao. Die

emheit der fünf Traunideuter soll wieder umgekehrte Perspektive vom Stand-

nkte Pharaos sein, eine Deutung, die hier um so bestechender ist, als diesmal

ese Figuren vom Betrachter vom Rücken gesehen sind, von Pharao also von vorn.

egen die Deutung spricht, daß Joseph, der auch von Pharao entfernt und in der

gentlichen Blickrichtung steht, nicht verkleinert ist, daß die Größenabstufungen

'erhalb der Traumdeuter nicht dem Abstände von Pharao entsprechen. Es ist

eh hier Rangabstufung. Überhaupt ist es bereits verkehrt, von Vordergrund und

e'grund zu reden, wo in Wirklichkeit Zentrum und Peripherie, Höher und
 
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