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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Kainz, Friedrich: Vorarbeiten zu einer Philosophie des Stils
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0032
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22

i

FRIEDRICH KAINZ.

den ästhetischen Wert des betreffenden Kunstwerks ausgesagt. Stil in
diesem Sinne ist ein Klassifikationsbegriff, ein Komplex von Formal-
kriterien prinzipieller oder historischer Art, aber kein Wertkriterium.
Das betreffende künstlerische Phänomen, von dem ausgesagt wird,
daß es in strengem oder freiem, in lyrischem oder epischem usw. Stil
geschaffen sei, daß es gotische oder barocke Wesenszüge aufweise,
braucht in all dieser seiner durchgängigen Formbestimmtheit noch nicht
wertvoll zu sein. Es kann Produkt einer sehr geringen Künstler-
potenz, eines Manieristen, eines handwerklichen Könners sein. Es
braucht mit den erwähnten Feststellungen nur zur Aussage zu ge-
langen, daß es der betreffende Autor verstand, vier reelle Stimmen nach
den Gesetzen der Harmonie- und Kompositionslehre zu führen oder
daß ein Nachahmer einem Meister bestimmte Züge einheitlicher Ge-
staltung absah. Wenn ich einem Werk gotischen oder barocken Stil
zuspreche, so sage ich — rein deskriptiv — damit zunächst nur aus,
daß es dem Kunstwollen einer bestimmten Epoche und den Kategorien
ihrer Sehens- und Darstellungsweise gemäß ist, ich sage aber nicht
auch schon, daß es jene organische innere Einheit und Totalität habe,
die nötig wäre, um die Verwendung des Wortes »Stil« als Wertbegriff
zu ermöglichen.

Ähnlich bemerkt R.Hamann1): »So reden wir von romanischem,
gotischem Stil, von Barock und Rokoko und meinen damit, daß die
Kunst dieser Zeiten Stil habe, auch wenn ihre einzelnen Kunstwerke
stillos sind, weil sie dem Geschmack einer bestimmten geistigen Ge-
meinschaft und Kulturepoche entspricht.« Wenn ich feststelle, daß ein
Werk in der z. B. zur Barockzeit üblichen Formensprache und Form-
bestimmtheit erscheint, so kann dies ein Vorzug sein, muß es aber
keineswegs. Und anderseits: wenn man feststellt, daß das Werk den
Gestaltungsprinzipien seiner Epoche nicht folgt, so muß das noch kein
Mangel sein. Gerade große Geister haben den Mut und auch die
Kraft, die Stilbahnen ihrer Epoche zu verlassen und Neues zu initiieren,
das, für sich betrachtet, durchaus stilvoll sein kann, wenn es auch
nicht einem bestimmten Zeitstil entspricht. Stil in deskriptivem Sinn ist
also die bestimmte Art der Formgestaltung, die gemeinsame Darstel-
lungsform für eine Mehrheit von Kunstwerken, ist die Summe und
der Nenner aller künstlerischen Gestaltungsprinzipien, Wirkungsmittel
und Formmomente, ist die einheitliche Formbestimmtheit einer Epoche.
Auch dort, wo man im Sinne neuerer Kunstforschung (Worringer) von
»Stil« im prägnanten Sinn spricht und darunter das Korrelat zum ab-
straktiven Kunstwollen versteht, liegt reine, wertungsfreie Deskription

J) Ästhetik. Leipzig und Berlin -1919, S. 129.
 
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