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FRIEDRICH KAINZ.
und sind dazu berechtigt, weil neben den Zweckrücksichten, die jedoch
durchaus organisch ins Werk eingegangen sind, noch ein darüber
Hinausgehendes enthalten ist. Die Sprüche Walthers v. d. Vogelweide
sind zum Teil politische Agitationsgedichte im Sinne der ghibellini-
schen Reichsidee — heute überwiegt für uns das Ästhetische. Es ist
also unmöglich und unnötig, aus dem Kunstschaffen alle Zweckrück-
sichten ausmerzen zu wollen; denn die Kunst als ästhetisches Phäno-
men kann sehr gut auch neben dem Zweck existieren. Sie hat es auch
oft genug getan. Sie muß es nur stets verstehen, neben organisch
verwerteten Zweckrücksichten zu einem ästhetischen Plus zu ge-
langen, das dann der kontemplativen Betrachtung zugänglich ist. Damit
kommen wir zu einem Zweiten. So unrichtig und einseitig es wäre,
alle Zweckbestimmungen aus der Kunst zu entfernen, so irrig und
einseitig wäre es anderseits, in der bloßen Zweckerfüllung und Zweck-
gemäßheit das Um und Auf, das letzte Wertkriterium bestimmter Kunst-
zweige sehen zu wollen. Wenn moderne Kunstgewerbler die Schön-
heit eines Gerätes lediglich in die Art der Gestaltung auf den Gebrauchs-
zweck hin verlegen, wenn ein moderner Architekt den Ausspruch tut,
»Schönheit ist Zweckmäßigkeit«, so sind sie im Unrecht. Mit dem
Zweck allein ist nicht alles getan. Ein kunstgewerbliches oder archi-
tektonisches Werk wird nur dadurch zum Kunstwerk, daß es etwas
über den Zweck Hinausgehendes enthält. Es muß ein künstlerisches
Plus erreicht sein, das eben, was man »Stilform< nennt (dieser Begriff
hat mit dem des Zweckstils zunächst nichts zu tun). Stil bedeutet hier:
merkbare künstlerische Gestaltung, Ästhetisierung, die dadurch erreicht
wird, daß der künstlerische Gegenstand über seine Zweckbestimmung
hinausgehoben wird und Eigenbedeutsamkeit erlangt. Alle künstlerische
Form muß als Zutat zur reinen Zweckform erscheinen. In der Stilform
sehen wir die Art und Weise, wie ein Künstler, wie eine Kunstepoche
über die objektiven Zweckformen hinausgegangen sind, um ihrem
künstlerischen Bedürfnis Genüge zu tun1). Der Kunstmaterialismus
hat neben Rohstoff und Technik auch die Rolle des Gebrauchszwecks
einseitig überhoch eingeschätzt. Es war ein Symbol für die geistige
Selbstbesinnung innerhalb der Kunstwissenschaft um 1900, wenn Riegl
diese materialistischen Übergriffe der Semperianer zurückwies. — Ohne
im mindesten philosophischen Ehrgeiz zu hegen, betont H. Cornelius2),
daß die Kunst nicht lediglich in der Anpassung an Zweck und Material
bestehe. Bildende Kunst ist Gestaltung für das Auge. Der Baumeister,
der Möbelfabrikant, der nur auf den praktischen Gebrauch seiner Er-
J) Vgl. Meumann, Syst. d. Ästh. 1919, S. 129 f.
2) H.Cornelius, Die Elementargesetze der bildenden Kunst2 1911.
FRIEDRICH KAINZ.
und sind dazu berechtigt, weil neben den Zweckrücksichten, die jedoch
durchaus organisch ins Werk eingegangen sind, noch ein darüber
Hinausgehendes enthalten ist. Die Sprüche Walthers v. d. Vogelweide
sind zum Teil politische Agitationsgedichte im Sinne der ghibellini-
schen Reichsidee — heute überwiegt für uns das Ästhetische. Es ist
also unmöglich und unnötig, aus dem Kunstschaffen alle Zweckrück-
sichten ausmerzen zu wollen; denn die Kunst als ästhetisches Phäno-
men kann sehr gut auch neben dem Zweck existieren. Sie hat es auch
oft genug getan. Sie muß es nur stets verstehen, neben organisch
verwerteten Zweckrücksichten zu einem ästhetischen Plus zu ge-
langen, das dann der kontemplativen Betrachtung zugänglich ist. Damit
kommen wir zu einem Zweiten. So unrichtig und einseitig es wäre,
alle Zweckbestimmungen aus der Kunst zu entfernen, so irrig und
einseitig wäre es anderseits, in der bloßen Zweckerfüllung und Zweck-
gemäßheit das Um und Auf, das letzte Wertkriterium bestimmter Kunst-
zweige sehen zu wollen. Wenn moderne Kunstgewerbler die Schön-
heit eines Gerätes lediglich in die Art der Gestaltung auf den Gebrauchs-
zweck hin verlegen, wenn ein moderner Architekt den Ausspruch tut,
»Schönheit ist Zweckmäßigkeit«, so sind sie im Unrecht. Mit dem
Zweck allein ist nicht alles getan. Ein kunstgewerbliches oder archi-
tektonisches Werk wird nur dadurch zum Kunstwerk, daß es etwas
über den Zweck Hinausgehendes enthält. Es muß ein künstlerisches
Plus erreicht sein, das eben, was man »Stilform< nennt (dieser Begriff
hat mit dem des Zweckstils zunächst nichts zu tun). Stil bedeutet hier:
merkbare künstlerische Gestaltung, Ästhetisierung, die dadurch erreicht
wird, daß der künstlerische Gegenstand über seine Zweckbestimmung
hinausgehoben wird und Eigenbedeutsamkeit erlangt. Alle künstlerische
Form muß als Zutat zur reinen Zweckform erscheinen. In der Stilform
sehen wir die Art und Weise, wie ein Künstler, wie eine Kunstepoche
über die objektiven Zweckformen hinausgegangen sind, um ihrem
künstlerischen Bedürfnis Genüge zu tun1). Der Kunstmaterialismus
hat neben Rohstoff und Technik auch die Rolle des Gebrauchszwecks
einseitig überhoch eingeschätzt. Es war ein Symbol für die geistige
Selbstbesinnung innerhalb der Kunstwissenschaft um 1900, wenn Riegl
diese materialistischen Übergriffe der Semperianer zurückwies. — Ohne
im mindesten philosophischen Ehrgeiz zu hegen, betont H. Cornelius2),
daß die Kunst nicht lediglich in der Anpassung an Zweck und Material
bestehe. Bildende Kunst ist Gestaltung für das Auge. Der Baumeister,
der Möbelfabrikant, der nur auf den praktischen Gebrauch seiner Er-
J) Vgl. Meumann, Syst. d. Ästh. 1919, S. 129 f.
2) H.Cornelius, Die Elementargesetze der bildenden Kunst2 1911.