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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Kainz, Friedrich: Vorarbeiten zu einer Philosophie des Stils
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0054
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FRIEDRICH KAINZ.

Vorstellungen in uns verfügbar haben, die wir bestimmten realen
Leistungen gegenüber als Regulative, Normen oder Kriterien verwen-
den können. Wenn es also einem sezessionistischen Architekten ein-
fiele, eine Kirche in der Art eines Gartenhauses zu bauen, könnten
wir ein solches Produkt aus unserem empirischen Vorstellungsbesitz
heraus ablehnen. Zwischen regulativer Zweckvorstellung und künstle-
rischer Leistung soll keine Diskrepanz bestehen. Ein anderer Fall ist
der, daß als Beurteilungsnorm eines künstlerischen Werks nicht eine
von diesem unabhängige Dingvorstellung fungiert, sondern die künst-
lerische Intention selbst, die aus den ersten Teilen des Werkes
gewissermaßen herausgeahnt werden kann, ohne in der Gesamtheit
des Werks wesensgerecht realisiert zu werden. Der Künstler deutet
eine bestimmte Intention an, ohne die Kraft oder die Konsequenz zu
haben, sie zu verwirklichen. Die Intentionsvorstellung wird dann für
uns zum Postulat. Bleibt eine Diskrepanz zwischen Intentionellem und
Erreichtem, so ist das ein Grund zu negativer Wertung. In den Bereich
des vorgestellten Intentionellen kann alles mögliche hineingehören:
Zweck, ästhetische Grundgestalt usw. Der Zweck löst im Betrachter
gewisse Vorstellungen aus, die dann als Postulate gelten. So stellen
wir uns unter einem Bahnhof etwas Praktisches, einen technischen
Arbeitsbau vor. Ein Bahnhof in maurischem Säulchenstil (Nord-
bahnhof in Wien) ist stillos. In analogem Sinn, natürlich in ganz
anderer Sphäre, wirkt das, was ich »intentioneile Kategorie« nennen
möchte. Der einmal initiierte ästhetische Grundtypus wird zum regu-
lativen Postulat, dem alle weiteren Teile des Werks zu gehorchen haben.
Ein Trauerspiel, das sich im ersten Akt intentionell als große histo-
rische Tragödie zu erkennen gibt, muß in den späteren Teilen halten,
was es anfangs versprach: es muß wirklich zu erhabenen Aufschwüngen
heroischer Tragik kommen. Jedes Herausfallen aus der initiierten Kate-
gorie wird als störend empfunden. Zwei Beispiele aus der Musik:
Durch den letzten Satz der C-moll-Symphonie Beethovens weht der
Geist großartiger Erhabenheit. Das erste Seitenthema wirkt seiner
melodischen Struktur nach ganz im Sinn dieser Kategorie, nicht aber
hinsichtlich der Klangfarbe und des Tempos. Die volle Wirkung im
Sinn der intentioneilen Kategorie wäre erst erreicht, wenn das Thema
von den Posaunen und nicht von den Holzbläsern gebracht würde,
und wenn ferner hier eine episodische Tempoverlangsamung einträte.
— Im Schlußchor der »Jahreszeiten« setzt Haydn bei den Textworten
»Ein ew'ger Frühling herrscht und unnennbare Seligkeit...« zu einer
gigantischen Schlußsteigerung ein. Der Hörer fühlt sich bei diesem
Aufschwung, der durchaus organisch kommt und erwartet wird, un-
geheuer wachsen. Der Absturz folgt aber allzubald. Haydn vermag
 
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