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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0084
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r

74 BESPRECHUNGEN.

Jahren sich herausbildenden wissenschaftlichen Zustand fest, von dem auch das
Haeberlinsche Buch ein beredtes Zeugnis ist. Die reine Empirie tappt doch rich-
tungslos umher und kann das Gold nicht finden, das vielleicht nur wenige Zenti-
meter unter der Erde versteckt ist, während die von einer klaren und wohlbegrün-
deten Theorie geleitete Erfahrung von Entdeckung zu Entdeckung schreitet. Ein
lehrreiches Beispiel hierfür ist die Frage, welche Bedeutung dem Gefühl zuzu-
schreiben ist. Die unmittelbare Beobachtung wird geneigt sein, das Gefühl als die
unreflektiert erlebte Reaktion des Ich auf den von einem Objekt ausgehenden Reiz
aufzufassen und demgemäß im Gefühl ein besonderes, für sich bestehendes Gebiet
des seelischen Lebens zu erblicken. Es könnte demnach unter Umständen das eigent-
liche Ziel eines seelischen Vorganges sein, ein Gefühlserlebnis zu produzieren.
Haeberlin behauptet nun, daß diese Auffassung auf einer Beobachtungstäuschung
beruhe. Indem er alle seelischen Vorgänge als Handlungen zu begreifen sucht,
sieht er in ihnen den Versuch des Subjektinteresses, das Objekt in bestimmter Weise
zu beeinflussen, also zu ändern. Folglich ist die Tat, die Änderung des Objekts,
immer das eigentliche Ziel der Handlung. Das Gefühl stellt nur eine Phase des
Handlungsverlaufes dar und tritt besonders dann hervor, wenn die Handlung in
ihrem Ablauf unterbrochen wird. Es ist nun interessant, daß eine vertiefte Beob-
achtung diese theoretische Ableitung Haeberlins zu bestätigen scheint. Denn seit-
dem die Psychologie die Bedeutung des Unbewußten für den Aufbau des seelischen
Lebens beachtet, stellt sich immer mehr heraus, daß die eigentlich wirksamen Ten-
denzen auf die Erreichung von Lust in welcher Form auch immer gehen, und daß
das Gefühl die den seelischen Akt begleitende Feststellung ist, ob und in welchem
Maß die zutiefst wirkende Tendenz erreicht ist.

Diese letzten Bemerkungen führen uns zu dem zweiten Teil des Buches, in
dem der Inhalt des Lebens zur Darstellung kommt. Denn dieser ist das, was das
Leben antreibt, woraus das Handeln entspringt. Haeberlin nennt dies Treibende,
die Triebe, ein Interesse. In allem Leben unterscheidet er zwei Richtungen des
Interesses, von denen die eine auf Konstanz, die andere auf Veränderung geht.
Nur durch deren Zusammenwirken ist Leben möglich, jedes Übergewicht aber eines
dieser beiden Faktoren würde unweigerlich das Leben zum Aufhören bringen; es
kann aber auch keinen Gleichgewichtszustand zwischen ihnen geben, denn dies
wäre Lähmung, also Nicht-Leben. Um die sich damit auftuende Schwierigkeit zu
lösen, nimmt Haeberlin einen dritten Faktor an, welcher die Energie auf beide
Seiten verteilt, indem bald die eine bald die andere bevorzugt wird. Bei allen rela-
tiven Individuen besteht so ein beständig sich änderndes und immer wieder sich
neu herstellendes Gleichgewicht. Jede Handlung geht nun in der Richtung einer
der beiden Tendenzen, aber sie enthält auch von der anderen etwas in sich und
stellt insofern immer einen Kompromiß zwischen den beiden Tendenzkomponenten
des Interesses mit Überwiegen einer derselben dar, welches in der Konstitution des
Individuums begründet ist. Aus dem verschiedenen Verhältnis ergeben sich die
mannigfachen Triebe, deren verschiedenen Modifikationen sehr interessante Be-
trachtungen gewidmet werden. Die reiche Skala der verschiedenen Möglichkeiten
des Zusammenwirkens von Beharrungs- und Veränderungstrieb im Liebestrieb
wird deutlich zur Darstellung gebracht, wobei die von der Psychoanalyse erarbeiteten
Erkenntnisse einen sichtbaren Einfluß ausgeübt haben.

Die Psychoanalyse hat das große Verdienst, zuerst das Problem des Triebes
in seiner Bedeutung erkannt und insbesondere die komplexe Natur des Liebestriebes
aufgedeckt zu haben. Auch die Ansätze, die sie machte zu einer Theorie der Triebe,
müssen ihr hoch angerechnet werden, wenn man auch zugeben wird, daß hier noch
 
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