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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0095
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BESPRECHUNGEN.

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Methode ersetzt wurde und man sich den individuellen Erscheinungen des ästhe-
tischen Lebens mit größerer Aufmerksamkeit zuwendete, da kam auch der »Ge-
schmack« wieder zu Ehren. »Die Hegeische Ästhetik hat ganz fehlgegriffen, wenn
sie diesem Begriffe seine ästhetische Berechtigung absprechen oder verkürzen wollte«
schrieb z. B. Karl Köstlin (Ästhetik S. 338). Eine Reihe von Spezialuntersuchungen
wurden angestellt. Eine wirklich umfassende Monographie fehlte indessen bis auf
den heutigen Tag.

Warum wohl? Ich vermute, daß es kein Zufall ist; daß sich Gründe dafür an-
geben lassen.

Immer deutlicher dringt in der jüngsten ästhetischen Forschung die Erkenntnis
durch, daß das Wesentliche im Schönen sowohl als in der Kunst auf einem Irra-
tionalen beruht. »Geschmack« dagegen ist einer der bezeichnendsten Begriffe des
18. Jahrhunderts. Mit dem »Geschmack« wurde innerhalb des Rationalismus etwas
Subjektiv-Irrationales anerkannt; aber dieses individuelle »Vermögen« schwankte,
urteilte und entschied noch immer als ein vollkommenes Analogon des Verstandes.
Seine Fähigkeit war eine »gemischte« — und ist sie offenbar geblieben bis auf den
heutigen Tag. Wer da eine um- und durchgreifende Untersuchung wagt, der muß
im Besitze fester philosophischer Prinzipien sein, mit deren Hilfe er die aus theo-
retischen und atheoretischen Bestandteilen zusammengesetzten
Phänomene des Geschmackes zu analysieren imstande ist. Andernfalls wird
er über den Standpunkt des Kultur- und Schönheit-reichen 18. Jahrhunderts höch-
stens insoferne hinauskommen, als das schönselige Räsonnement jener Zeit dem
tieferen Ernst und Verantwortlichkeitsgefühl unserer Tage weichen muß. —

Die Verfasserin des vorliegenden Werkes — dies sei von vorneherein erklärt —
hat sich nun tatsächlich ihr Ziel so hoch gesteckt und einen solch weitausholenden
Anlauf zu seiner Erreichung genommen, daß ihr Buch mit einem Maßstab gemessen
werden muß, den man nur an Gedankengänge anlegt, die eine seit Jahrhunderten
offen stehende Problematik mit einem Schlag grundsätzlich und in ihrem vollen
Umfange zu lösen versuchen. Damit ist eine Anerkennung und Wertschätzung der
Leistung ausgesprochen, die von der Kritik selbst nicht getroffen werden kann; die
bestehen bleibt, auch wenn es sich herausstellen sollte, daß die Ergebnisse unzu-
reichend oder geradezu verfehlt sind.

Zunächst einige allgemeine Orientierungen. Es handelt sich nicht eigent-
lich um einen Beitrag zur Ästhetik. Eine solche Wissenschaft wäre im Sinne der
Verfasserin erst neu zu begründen; sie nennt sie Kallognomik (S. 367), und begnügt
sich damit den Ansatz zu einer reinlogischen Schönheitslehre, deren »Gegenstand
weder die Natur noch die Kunstwissenschaft« ist, herauszuarbeiten (S. 223 f.). Aber
das geschieht sozusagen nebenbei. Sowohl die Ästhetik als die (gleichfalls wissen-
schaftlich neu zu begründende) Erotik werden von dem großen Gegenstand des
Werkes, dem Geschmack, bestimmend bewegt. Der Geschmack greift in diese Ge-
biete über, aber seine Bedeutung erschöpft sich nicht in ihnen. Er gehört vielmehr
der Allgemeinen Weltanschauungslehre an, insoferne »die Weltanschauung
im letzten Grunde eine Funktion des Geschmackes ist« (S. 7). Er ist eine Lebens-
form von umfassendster Auswirkung; seine Untersuchung und Darstellung würde
wohl am besten als Phänomenologie und Dialektik des Geschmackes be-
zeichnet. Damit soll auch angedeutet sein, daß die Verfasserin zwar eine Zugehörig-
keit zur modernen Phänomenologie Husserls und seiner Schule ausdrücklich ab-
lehnt (S. 24), dagegen entschiedene Beziehungen zu Hegel hat. Sie ist eine Lieb-
haberin des Sowohl-Alsauch. »Für den geistreichen Menschen gibt es kein Ent-
weder-Oder« (S. 42 f.). Sie lehnt die Transzendenz des Sollens ab (S. 266). Sie hat,
 
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