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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0104
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BESPRECHUNGEN.

Titel liegt aber überhaupt eine gewisse Einseitigkeit, weil das 15. Jahrhundert ja
nicht nur einen »Herbst«charakter zeigt, sondern stark vorwärts drängende Momente
enthält, die ihrerseits mit Frühlingsstürmen verglichen werden könnten, da sie die
große Revolution des 16. Jahrhunderts vorbereiten halfen. Diese Einseitigkeit ist aller-
dings bis zu einem gewissen Grade vom Verfasser gewollt. Er spricht im Vorwort
davon, daß man das 14.—15. Jahrhundert viel zu sehr als die Adventszeit der Renais-
sance behandelt habe, während man den Vertretern des damaligen Zeitgeistes besser
gerecht würde, wenn man sie nicht als Anfänger des Kommenden, sondern als Voll-
ender betrachte. Natürlich hat diese Betrachtungsweise, die ja den Theologen und
Historikern seit geraumer Zeit durchaus geläufig ist, ihre Berechtigung, vorausgesetzt,
daß sie nicht in dieselbe Einseitigkeit verfällt wie die andere. Zweifellos ist der Ver-
fasser von einer solchen Einseitigkeit nicht ganz frei geblieben, aber lassen wir ein-
mal die Frage nach der Berechtigung oder Nichtberechtigung des Titels beiseite, so
hat diese mehr rückwärts gewandte Betrachtungsweise uns jedenfalls ein so farben-
prächtiges Bild des französisch-burgundischen Kulturkreises geliefert, wie wir es noch
nicht besaßen. Ich berichte kurz über den Inhalt.

Das Auffallende ist auch hier, wie im Mittelalter überhaupt, die ungeheure
Spannung des Lebens (Kap. 1). Die Gegensätze waren unendlich viel größer als in
der Gegenwart. Zwischen Glück und Unglück, Freude und Trauer, Licht und Dunkel-
heit, zwischen der Kälte des Winters und der Wärme des Sommers waren die Unter-
schiede stärker als für uns. Das wirkte aber auf die Stimmung der Menschen zurück.
Sie schwankten zwischen tollster Ausgelassenheit und vollkommenem Weltverzicht,
zwischen rohester Grausamkeit und rücksichtslosester Selbstaufopferung hin und her.
Das tägliche Leben bot ihnen dafür einen fortwährenden Anreiz. In bunter Abwechslung
zogen an ihnen die Prozessionen und die fürstlichen Einzüge vorbei, die Bußpredigten
der Wanderprediger und die Lustbarkeiten der Fürstenhöfe. Auf den Thronen sahen die
damaligen Menschen die seltsamsten Gestalten: gleichzeitig herrschten in England Ri-
chard IL, in Deutschland Wenzel, in Frankreich der wahnsinnige Karl VI., in Avignon
der hartnäckige Aragonese »Le Tappe de Ia Lüne«. Hintereinander erlebten sie die
Ermordung des Herzogs Ludwig von Orleans 1407 durch die Mörder, die der bur-
gundische Herzog Johann ohne Furcht gedungen hatte, und wiederum die des Jo-
hann ohne Furcht 1419 auf der Brücke zu Montereau, die abenteuerlichen Schicksale
Renes von Anjou und seiner Tochter Margarete, der Gattin Heinrichs VI. von Eng-
land, und anderes mehr. War es ein Wunder, daß das Volk nur noch an dem Außer-
gewöhnlichen Gefallen fand? Nach unserem Empfinden gibt es nichts Widerwärtigeres,
als das Ergötzen des Volkes an den furchtbaren Foltern der Verurteilten. Wenn die
Bürger von Möns einen Räuberhauptmann um teuren Preis kauften, bloß um ihn
vierteilen zu sehen, so verschwindet hinter diesen niedrigen Gelüsten alles, was die
Gegenwart an nervenaufpeitschenden Stierkämpfen und Sechs-Tage-Rennen aufzu-
weisen hat. Aber diese Formen mittelalterlichen Empfindens sind ja bekannt. Viel
bedeutsamer ist, was in dem Buche über die Ästhetik der Lebensverhältnisse für den
französisch-burgundischen Kulturkreis festgestellt wird. Überall war das ritterliche
Ideal das bestimmende Moment. Dadurch wurde das Rittertum auch zum ästhe-
tischen Ideal. Sein wesentliches Moment war der zur Schönheit erhobene Hochmut;
denn aus ihm stammt der Ehrbegriff, der den Pol des adeligen Lebens bildet. Mit
ihm verknüpft sich wieder der Traum von Heldentum und Liebe. Es ist daher nicht
zu viel gesagt, daß der Zug der mutigen Selbstaufopferung, der dem Ritterideal eigen
ist, mit einer erotischen Grundlage dieser Lebenshaltung zusammenhängt. Die burgun-
dische Gesellschaft hat in dieser Beziehung erstaunlich viel ertragen. Was für ein ab-
stoßendes Bild gewährt jene schöne 18jährige Peronelle d'Armentieres, die dem alten
 
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