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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Schmidt, Walther F.: Promusikalität und Musikalität der lyrischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0230
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WALTHER F. SCHMIDT.

Welche sind nun die ihrer Natur nach musikalischen Konstruktions-
elemente, deren auch die promusikalische Lyrik gradweise teilhaftig ist,
welcher Art ist insgesamt die Gestalt jener Lyrik, deren endgültige
Vollendung erst in der Vertonung gegeben scheint?

Was Dichtung und Musik schon in dunklen Zeiten aneinander
band, war, was ursprünglich ihnen beiden gemeinsam: der Rhythmus.
Die auf der Gemeinsamkeit des rhythmischen Elementes ruhende Wechsel-
wirkung zwischen den poetischen und musikalischen Faktoren ruft
natürlicherweise eine charakteristische Abhängigkeit beider im Gesamt-
werk hervor. Wie für das sangbare Gedicht — gewissermaßen in
statu nascendi — ein Anpassen seiner konstruktiven Elemente an die
Elemente der musikalischen Konstruktion gestaltgebend wirkt, so wirkt
diese einmal geschaffene Gestalt mit allen konstruktiven Einzelheiten
auch auf die Gestaltung des Musikalischen in der Vertonung ein, ja
sie bestimmt diese sogar. Analogien in der Bildung spezifisch lyrischer
Konstruktionseigenheiten wie Vers und Strophe, denen auf der Seite
der Musik Satz und Periode entsprechen, werden auf der gleichen
Basis bereichert durch Bildungen, die ebenfalls durch die enge Ver-
wandtschaft mit den konstruktiven Elementen der Musik bedingt er-
scheinen. Sie sind ebenso promusikalisch, solange das Wort als Material
zur Formung bestimmter Konstruktionsdetails Verwendung findet, die
der Ausfüllung und Bekleidung durch musikalische Analogien dienen.
Gemeint sind Wiederholung, auch als Sequenz, und Kehrreim.

Die Fenster auf! die Herzen auf!

Geschwinde, geschwinde!

Der alte Winter will heraus,

Er trippelt ängstlich durch das Haus,

Er windet bang sich in der Brust

Und kramt zusammen seinen Wust,

Geschwinde, geschwinde!

(Robert Reinick: Frühlingslied.)
Selbstverständlich bin ich weit davon entfernt, Wiederholung und
Kehrreim durchaus nur als konstruktive Normen werten zu wollen.
Wer in dem Kehrreim eines bekannten Gedichtes von Mörike — »Ein
Stündlein wohl vor Tag« — lediglich eine konstruktive Anpassung an
die Elemente der musikalischen Konstruktion sähe, würde mich miß-
verstehen. Wichtig ist hier jedoch, daß Kehrreim und Wiederholung
nie ganz auf ihre Eigenschaft als äußeres promusikalisches Konstruk-
tionselement verzichten können, eine zwingende Notwendigkeit für den
Komponisten, der an ihrer strukturellen Bestimmtheit keineswegs vor-
übergehen kann. Daß in der letzten Strophe des genannten Gedichtes
jener Kehrreim in der Verbindung mit Ach, Lieb und Treu ist wie
ein Traum« wie ein Traum ein Stündlein wohl vor Tag — eine
 
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