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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0263
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BESPRECHUNGEN.

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brochenen Kruges in einer ungernäßen Dimension suchen und somit verkennen,
wenn man behauptet, er bilde mit den beiden ersten Tragödien (Familie Schroffen-
stein, Robert Guiskard) zusammen »die erste Dramengruppe des Dichters . .. mit
dem ersten Zentralgedanken des Christentums von der Erbsünde und ihren Folgen«
(193), wenn man sagt: »so ist in der Gestalt Evchens der zweite Zentralgedanke
des Christentums aufgetaucht: der von der Erlösung« (193)? Man tut wahrlich dem
Dichter keinen Gefallen damit, wenn man seine Gestalten, Geschehnisse, Probleme
hineinsteigert in seien es auch noch so hohe und ehrwürdige, aber artfremde
Bereiche, wie es Braig Kleist gegenüber begegnet. Wer sucht und findet etwa in
der Geschichte des Amazonenstaates »die Geschichte des Sündenfalles der Mensch-
heit und seiner Folgen« (221)? Ist wirklich Penthesilea »die Vision Kleists vom
Urbild der Menschheit, vom ersten Menschen, wie er war, als er aus Gottes Hand
hervorging, als der Schöpfer ihm die Seele einhauchte und sein Ebenbild nun die
Augen aufschlug, um mit dem ersten Blick — welch einem Blick! — grenzenloser
Seligkeit in unendlicher Liebe unterzutauchen im Auge des ewigen Gottes« (228)?
Ist wohl Penthesileas Wesen in seiner Eigenart erfaßt, wenn man spricht von ihrem
»Schicksal des Hineingeborenseins in die heidnische Welt des Irrtums und des
Wahnes . . ., um mit der Notwendigkeit der ewigen Natur das Gesetz des Irrtums
und des Wahnes aufzulösen, indem sie es erfüllt« (229)? »Der Wahn des Heiden-
tums löst sich auf in der Wahrheit des Christentums« (239): welcher Unvoreinge-
nommene würde wohl ahnen, daß mit diesem Satz der dramatische Gehalt der
Penthesilea gekennzeichnet werden solle, wer zugeben, daß Penthesilea die »Tragö-
die der Wandlung vom Heidentum zum Christentum« (250) sei: »im Tode erwacht
sie aus dem Heidentum zum Christentum« (499)? Für diese gewaltsame Umbiegung
ins Religiöse nur noch ein Beispiel, Braigs Deutung des Erdbebenschlusses: »Wie
aus unendlicher Ferne, von den äußersten Polen des Weltalls nahen sich die Lieben-
den, urbildlich füreinander bestimmt, um den kurzen Traum der Liebe zu träumen
in dieser dunklen Welt. Aber Vernichtung ist das Los alles Erhabenen und Schönen
auf der Erde, und dem Paradiesestraum folgt der entsetzlichste Untergang. Da, in
diesem Augenblick der Verzweiflung, wo der Schrei der Kreatur durch die Welt-
nacht gellt, kündet sich die erhabene Wandlung an: das Kind, der Stern über dem
Stalle zu Bethlehem. Im »Erdbeben in Chili« die Verkündigung der Geburt, in ein-
facher, naturalistischer Symbolik, in der Tragödie Penthesileas die Wandlung im
Tode, das Symbol des Kreuzestodes auf Golgatha« (448).

In dieser religiösen Auffassung Kleists vermag ich Braig keineswegs zu folgen,
erkenne aber gern an, daß in ihr wohl eine Seite seines Wesens, nur einseitig
übertrieben, zum Ausdruck gebracht ist. So ist gewiß die Herausarbeitung vieler
Einzelzüge notwendig, um dem so vielseitigen und zugleich so wenig zutage liegen-
den Wesen Kleists als Ganzem nahezukommen. Allzusehr schließlich scheint mir
Braig auch Motivvergleichungen nachzugehen, wennschon nicht geleugnet werden
soll, daß er sie vielfach fruchtbar zu machen weiß. Gesucht erscheint mir etwa die
Parallelsetzung: Familie Schroffenstein — Findling, Robert Guiskard — Erdbeben
in Chili, Amphytryon — Marquise von O . . .: und auch mit der von Braig häufig
geübten Vergleichung von Gestalten verschiedener Werke, mit der wie mit der Motiv-
vergleichung als Arbeitsmethoden ich selbst mich in meiner Schrift »Die Chrono-
logie der Novellen H. v. Kleists«x) kritisch auseinandergesetzt habe, kann ich mich
nach wie vor nicht befreunden. Diese Arbeitsweise, mit der man meines Erachtens
so gut wie jede Behauptung stützen kann, zumal in ihrer Anwendung zur Ermitt-

]) Weimar, Duncker, 1920.
 
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