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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Bertalnaffy, Ludwig von: Die Entdeckung des Raumes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0318
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BEMERKUNGEN.

aufzulösen. Wieder die Frage nach der Berechtigung des Prinzips beiseite gelassen,
ist es außer Zweifel, daß der Kubismus so etwas wie eine abstrakte (von dem
Naturvorbild abgelöste) Darstellung des Raumes anstrebte. So ist weiters in manchen
Gemälden van Goghs (wie im »Irrenhausgarten«) ein eminent starkes Raumerlebnis,
das aus der zweidimensionalen Bildfläche in den Raum vorstößt.

Einige ganz moderne Erscheinungen reihen sich an. Herbin in Frankreich,
Beckmann, Davringhausen in Deutschland suchen das kubische Dasein der
Dinge im Raum ganz energisch zu umschreiben. Auch der Amerikaner Dickinson
mit seiner starken Perspektive scheint sich anzuschließen. Könnte man die verrückten
»Raum-Konstruktionen« der Sturmgruppe ernst nehmen, so müßten sie hier — bei
den Zeugnissen eines neu erwachten Raumgefühls — ihren Platz finden.

Diese — nicht allzusehr verbreitete — Erscheinung wäre nun eine künstlerische
Mode, wie wir deren schon unzählige erlebten, wenn nicht ein besonderes Moment
gerade hier zum Aufmerken zwänge. Diese »Entdeckung des Raumes«, das Vor-
stoßen aus der Fläche in die Tiefe ist nämlich eine Erscheinung, welche ganz und
gar nicht auf die Malerei beschränkt ist, sondern auf anderen, wichtigen Gebieten
ihr genaues Gegenspiel findet.

Da ist etwa die Architektur. Während diese bis vor kurzem sich im Dekora-
tiven erschöpfte, finden wir jetzt — mitbedingt durch die heute notwendige Spar-
samkeit — ein Abkommen von allem bloß Dekorativen und eine Besinnung, daß
das Wesen der Architektur in der Darstellung des dreidimensionalen Raumes bestehe.
Schmucklose Raumwerte bezeichnen den Charakter der modernsten Architektur.

Diese Bewegung macht selbst vor der Philosophie nicht Halt. Spenglers
Raummetaphysik oder -mythologie sieht in der Sehnsucht nach Überwindung des
Raumes den Grundzug der abendländischen, »faustischen« Seele.

So sind endlich moderne Technik, modernes Leben überhaupt von der Sehn-
sucht nach Raum erfüllt. Entdeckungsreisen, Luftschiffahrt, Imperialismus, moderne
Verkehrsmittel sind alles Ausdrucksformen dieser einen Tendenz.

Um zu Erkenntnissen über den neuen »Raumrealismus« (wenn man so sagen
darf) zu gelangen, ist zunächst eine Untersuchung angezeigt, wann historisch ähn-
liche Erscheinungen schon dagewesen sind. Der Raumrealismus gehört vor allem
der Renaissance an. Die raumbildende Malerei hat absolut klassizistische Tendenz.
Die Entdeckung der Linearperspektive, der -»divina prospettiva« durch Brunel-
1 e s c h i ermöglichte die exakte Konstruktion von Räumen in der Fläche. Die Per-
spektive war eine Offenbarung. Sie hat das den Menschen umdräuende Rätsel des
Raumes beschworen. So sehen wir das Architekturbild, oft ohne jede figurale Dar-
stellung, nur Raumkonstruktion für sich, in der Renaissance dominieren; denn es
ermöglicht die mathematische Raumkonstruktion in voller Abstraktheit, während sie
etwa in der Landschaft, wo keine regelmäßigen Linien und Formen vorkommen,
schwerer möglich ist. Bei Mantegna, in den Fresken der Camera degli sposi, ja
vielleicht schon früher bei Piero della Francesca, ist das Raumproblem voll-
ständig klar formuliert. Signorellis und seines großen Schülers Michelangelo
Kompositionen beruhen darauf, durch Überschneidungen und perspektivische Mittel
mit Hilfe von Aktfiguren Raum zu konstruieren. Michelangelos »Heilige Familie«
ist ein direkter Vorläufer von Marees. Die Entwicklung gipfelt in Rafaels Stanzen-
bildern, die an Originalität und Komposition das großartigste Werk des Urbinaten sind.

Im französischen Klassizismus findet die Raumkonstruktion der Renaissance ihre
Weiterbildung. An die römischen Klassizisten schließt sich der gewaltige Poussin.
Mit Lorrain werden in die Raumgestaltung die zartesten Lichteffekte einbezogen.
Poussins und Lorrains stereotypes Schema: Vordergrundkulisse — Ausblick in den
 
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