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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Bertalnaffy, Ludwig von: Die Entdeckung des Raumes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0320
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310

BEMERKUNGEN.

Nun, jedenfalls ist die Wahrnehmung des wirklichen Raumes ein psychologischer
Vorgang, der sich unter der Schwelle meines Bewußtseins abspielt, von dem ich
nichts weiß. Durch die fortgesetzte Übung ist der Apperzeptionsvorgang ganz und
gar mechanisiert und unbewußt geworden.

Wie steht es nun aber, wenn uns nicht der wirkliche Raum, sondern der durch
die Mittel der Perspektive auf die Leinwand gezauberte Scheinraum des Gemäldes
gegenübersteht?

Es ist zunächst zu sagen, daß hier eine echte Illusion gegeben ist — einer der
ganz wenigen Fälle, in denen dieser vielumstrittene Begriff mit vollem Recht in der
Ästhetik anwendbar ist. Es ist bei der Betrachtung des Gemäldes ein wirkliches
Hin- und Herpendeln zwischen dem Schauen des Raumes und dem Schauen der
Fläche, zwischen Getäuschtwerden und die Täuschung Durchschauen gegeben (wie
dieses Pendeln nach Lange das Wesen der ästhetischen Illusion ausmacht — ohne
daß es ihm gelungen wäre, dieselbe als allgemeines Phänomen nachzuweisen).

Weiter. Es läßt sich sagen, daß jedenfalls die psychische Leistung eine größere
ist, den Scheinraum des Gemäldes, als den wirklichen Raum um uns zu schaffen.
Endlich ist die Wahrnehmung des wirklichen Raumes etwas Gewöhnliches, die des
malerischen Raumes etwas Seltenes. Daraus ergibt sich nun: indem die Schwierig-
keiten, welche der Schaffung des Bildraumes entgegenstehen, größere sind als die
Schwierigkeiten, welche der Schaffung des gewöhnlichen Raumes entgegenstehen;
indem ferner die Schaffung des Bildraumes ein für das Bewußtsein neuer, noch
nicht durch die Gewohnheit abgestumpfter und mechanisierter Akt ist, folgt daraus,
daß der Apperzeptionsvorgang, der dem wirklichen Raum gegenüber ohne Tätig-
keitsgefühl verlief, dem nach den Gesetzen der Perspektive entworfenen Bildraum
gegenüber mit Tätigkeitsgefühl erfolgt!).

Anders ausgedrückt: es wird hier intuitiv erlebt, daß mein Bewußtsein es ist,
welches den Raum schafft. Die Lehre von der Intensivierung des Schauens findet
so eine außerordentliche Vertiefung. Fichtes Wort wird Wahrheit: >Die Kunst
macht den transzendentalen Standpunkt zum gemeinen«.

Warum trifft nun diese Bestimmung in besonderem Maße auf die klassizistische,
linearperspektivische Malerei zu? Wir können sagen: klassizistische Malerei gestaltet
den endlichen, umgrenzten, klar übersehbaren, sozusagen plastischen Raum; lumi-
nistische und koloristische Malerei (Rembrandt, Impressionismus) will den Ein-
druck des unendlichen Raumes erwecken. Ein Raum, der nur angedeutet ist, und
der über alle Grenzen hinausfließt. Die Intensivierung des Schauens erfolgt hier nicht
sowohl durch die mathematischen Hilfsmittel der Perspektive, die einen Raum an
sich konstruiert, sondern mehr durch Assoziationen, welche die Empfindungen zu
Dingen ordnen, denen gegenüber der Raum unendlich wird. So findet das Para-
doxon seine Erklärung, daß das impressionistische Gemälde in seinen Höhepunkten
(Degas, Neoimpressionismus) zugleich Farbfläche und Unendlichkeit ist. Ein Phä-
nomen, das mit dem Goldhintergrunde der Gotik, aber auch mit Goyas nebligem
Aquatinta-Grau Verwandtschaft hat: es ist kein Raum da, die Figuren stehen vor
einer Fläche; aber zugleich scheint es, als säßen sie vor der offenen Unendlichkeit.

Zwei Momente sind in jedem Kunstwerk wirksam: das expressive und das
formale. Durch die einfühlende Naturbeseelung wird Seele und Leben (das uns

:) In ähnlicher Weise ist die erfassende Zusammensetzung einer schwierigen
Melodie, der Worte einer fremden Sprache, die in ähnlicher Weise psychologische
»Gestalten« wie die Raumgestalten sind, beim ersten Hören mit einem deutlichen
Tätigkeitsgefühl verknüpft, welches sich durch die Gewohnheit verliert.
 
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