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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Klopfer, Paul: Die beiden Grundlagen des Raumschaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0322
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312

BEMERKUNGEN.

steigerten Dynamik die Beziehung zwischen Arkade und Fenster zerrissen, während
in beiden Architekturkomplexen das Gerüst, d. h. die Tektonik, bleibt.

Das Tektonische kann in der Klassik wie im Barock nie ausgeschaltet werden,
es ist dafür die conditio sine qua non, die Dynamis, die Genialität des Meisters, der
Kunstwille der Kultur, mag noch so stark und kühn sein.

Ebensowenig kann im Romanisch-Gotischen das stereotome Element geleugnet
und etwa durch sogenannte »Säulen« zerstört werden. Nur die Mischstile, wie z. B.
die deutsche Renaissance und etwaige Stilformen an Kulturgrenzen und -Übergängen
geben Beispiele von der Diosmose beider Raum- und Begriffsarten, deren Studium
natürlich besonders fesselnd ist.

1.

Einen Raum können wir uns dadurch entstanden denken, daß vier Wände sich
aneinanderschließen und unten der Fußboden, oben die Decke sich quer dazu
breiten.

Oder aber: der Raum kann wie aus einem Schneehaufen aus einer vorhandenen
Masse herausgeschnitten werden.

Im ersten Fall sind die Wände das Gegebene, sind sie die Bedingung
für den Raum, und dieser ist die Folge, und als solcher ist er von den Wänden
existenzabhängig.

Im zweiten Fall hingegen sind die Wände die Folge des Raumes: erst muß
der Raum in der Höhle oder als Höhle fertig und vorhanden sein, ehe die Wände
bestehen können. Der Raum ist das primäre, die Wände bilden das sekundäre Ele-
ment der Schöpfung 1).

Den Weg zum Ziele mochte Gottfried Semper weisen, wenn er auch
die beiden Begriffe in ihrer gleichartigen und gleichwertigen Gegensätzlichkeit nicht
erkannte. Semper nämlich spricht in seinem Werke »Der Stil« neben anderem von
den »tektonischen und den stereotomen Künsten«. Was bedeuten ihm aber diese
Künste, deren Namen ich für die hier in Frage stehenden Begriffe verwende?

2.

Zunächst: Was meint Semper mit dem Begriff des »Tektonischen«? In
handwerklich-materialistischer Befangenheit kann er sich vom Stoff nicht losreißen,
kann er sich nicht zu ästhetischer, genauer: materialästhetischer Beurteilung
aufschwingen. So teilt er sein tektonisches Kapitel in Rahmenwerk, Geschränke,
Stützwerk und Gestell und spricht vor allem dem hölzernen Dachgerüst eine große
Bedeutung zu. Aber er betrachtet all das nicht im Hinblick auf den Raum und auf
die Rolle, die es im Räume spielt, sondern immer wieder nur kunstgewerblich.
Das ist ja bekannt. Wichtig erst wird uns diese Anschauung (und neu und deutlich
an ihrem Widerspruch zum ästhetischen Wesen der Tektonik), wenn wir sehen,
wie gerade das Säulensystem, dieser Grundbaß aller Tektonik, von Semper als
Steintektonik bezeichnet, bei ihm gerade nicht zum Kapitel Tektonik, sondern zu
dem der — Stereotomie gehört!

Bleiben wir noch etwas bei Semper. Die Stereotomie teilt er in zwei Gruppen:
die dienende (u. a. auch »dienend« zur Ausführung eines tektonischen Gerüstes!)
und eine, »bei der die räumliche Idee unter dem unmittelbaren Einfluß der Stein-
struktur Ausdruck fand«.

]) Die Bauästhetik hat sich meines Wissens bisher noch nicht mit diesen beiden
Erscheinungsformen erschöpfend befaßt, wenigstens habe ich bei Abfassung meiner
Arbeiten über dieses Thema nirgends Anhaltspunkte gefunden.
 
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