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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Klopfer, Paul: Die beiden Grundlagen des Raumschaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0326
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316

BEMERKUNGEN.

stülpt. Wölfflin spricht von der »Gelenkkunst« der italienischen Renaissance — »das
Gewölbe läßt sich abheben wie ein Deckel« !).

Die stereotome Decke dagegen bildet mit der Wand eine Einheit, sie
kann dabei mit noch soviel klassisch-tektonischen Anhängseln dekoriert sein. Das
Ziel ist unverkennbar: es ist die vom Boden bis zum Gewölbezenit einheitliche
Höhle, so wie sie die Spätgotik in ihren Hallenkirchen zeigt, die endlich dem
Pfeiler das letzte bißchen Surrogat des Säulenhaften abgestreift haben.

Wie sich nun die »Höhle« im Einfluß der wachsenden Dynamik der Volksseele
in ihrer Befreiungssehnsucht aus dem Zwange der Kirche immer mehr und mehr
weitet, wie die Sehnsucht nach Licht alles Engende siegreich bekämpft — um zuletzt
(im Naturalismus der ausklingenden Gotik) doch wieder zu erkennen, daß alles
faustische Streben seine Grenzen hat, daß der Mensch zuletzt und immer wieder
doch nur dem Geiste gleicht, den er begreift — dies zu verfolgen vermag uns erst
den rechten Einblick in die sogenannte Entwicklung der Gotik zu geben.

Die materialistische Auffassung, die die Gewölbe untersucht und ihre Pfeiler-
stärken nachrechnet, mag technisch-wissenschaftlich recht sein, zum Verstehen
des Stils führt sie nicht.

Im Gegensatz zu Sempers Auffassung sollten wir erkennen, daß der stereotome
Stil als »Innenstil« den Raum ohne den »Kampf von Schwere und Starrheit« also
rein als solchen gibt und alles Stützwerk nach Außen schiebt.

Wenn Semper2) behauptet, daß dadurch das Auge »unbefriedigt« bliebe, weil
die äußeren Gegenstreben nicht sichtbar sind, so beweist dies nur seinen technisch-
wissenschaftlich befangenen, aber nicht ästhetisch empfindenden Blick. Davor aber
müssen wir uns hüten.

9.

Schon oben (6.) bei Erwähnung des »griechischen« und »römischen« architra-
vierten Bogens wurde von dem Wert gesprochen, den solche Erkenntnis für das
Verstehen der Baukunst hat. In der Tat findet der einmal in seinen Grundsätzen
von Tektonik und Stereotomie geschulte Blick auf Schritt und Tritt, und gerade in
den Mischformen Anregungen für die Vertiefung seines Kunstverständnisses.

Fragen, die bislang nur bautechnisch oder auch kulturhistorisch beantwortet
werden konnten, lösen sich ihm unter dem neuen Blickwinkel. Wie ganz anders
erscheint ihm, um nur ein Beispiel von vielen zu nehmen — das Innere des Pan-
theons, wenn er erkennt, daß das stereotome Gewölbe — mit tektonischen Kas-
setten verziert ist, welche Konsequenz spricht zugleich aus solchem Mixtum compo-
situm, das vor den Mauerzylinder klassische Säulen stellt — zugleich: welche enge
Verwandtschaft findet sich hier zum Konstantinsbogen mit seinem stereotomen
Körper, vor den entsprechend tektonische Masken gehängt wurden!

Ganz besonders lehrreich ist unter dem Gesichtswinkel von Tektonik und Stereo-
tomie das Studium des deutschen Fachwerks in seiner Zweiheit vom (tekto-
nischen) Rahmbau und dem stereotomen Stielbau. Bis ins Kleinste verrät sich der
aushöhlende Sinn des faustischen Menschen im Gegensatz zu dem mit Bändern,
Rahmen und Leisten arbeitenden Renaissancemenschen.

10.

Alles Bauschaffen ist eine Auseinandersetzung des Kunstwillens
mit dem Stoff. Das Primäre also ist der Kunstwille. Das Architekturstudium kann

1) H. Wölfflin, Die Architektur der deutschen Renaissance. München 1914.

2) Teil I, IV. Hauptstück, § 83.
 
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