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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0353
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BESPRECHUNGEN.

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beider Wissenschaften in einem umfangreichen Werk nieder. Die nordeuropäische
Kulturprovinz, »die Skandinavien und Norddeutschland ungefähr bis zum Breitengrad
der Rheinmündung umfaßt«, ist das nordische Kernland, auf welches sich seine
Überlegungen beziehen. In der Betrachtung eines als geographischer Distrikt und
als kulturelle Epoche begrenzten Gebietes werden aus der Formvollendung der
Einzelperiode Gesetze des Ganzen abgeleitet, der Kunst überhaupt. Probleme ent-
stehen aus den Werken, nie wird die Kunstform zur Demonstrierung eines Gedankens
mißbraucht.

Die Ausbreitung des Formenreichtums, die Scheltema mit der Gewissenhaftig-
keit und Wärme übernimmt, die seiner Arbeit den objektiven und subjektiven Wert
sichert, kann referierend nicht wiederholt werden. Aber einige wichtige aus dem
großen Material erdachte Probleme seien mitgeteilt, um die Art des philosophischen
Vorgehens zu zeigen.

1. Physioplastik und Ideoplastik. Es war »eine fest eingewurzelte
Überzeugung, daß die erste Kunst aus der regelmäßigen Anordnung einfachster
Elemente bestehen müsse.« Sie verlor ihre Festigkeit, als die Kenntnis der diluvialen
Höhlenmalereien und der paläolithischen Voll- oder Reliefplastik aus Elfenbein- und
Knochenmaterial der im Sinne der ersten Forderung gebildeten geometrischen Neo-
lithik eine völlig anders geartete Kunstübung aus weiter Vorzeit gegenüberstellte.
Durch Verworn erhielten diese gegensätzlichen Gruppen die Namen der ideo- oder
physioplastischen Darstellungen. Die erste soll der vom Geist geschaffenen, die zweite
der das Naturvorbild unmittelbar reproduzierenden Bildungsweise ihr Dasein danken.
Letztere ist — wie die Kunst des Paläolithikums zeitlich dem Neolithikum weit voran-
steht — für Verworn auch die primitivere. Der Mensch dieser Stufe verfügt noch
nicht über diejenige Freiheit des Geistes, welche sich in ideoplastisch-künstlerischen
Handlungen dokumentieren könnte.

Auch Scheltema vermutet hinter der Verwornschen Definition die richtige »Lösung
dieses kunsthistorischen Rätsels.« Er erkennt in den künstlerischen Leistungen des
diluvialen Jägertums eine dem eigentlichen Wesen der neolithischen, bronze- und
eisenzeitlichen Ornamentik verbindungslos entgegengesetzte Art, und in der Periode
zeitlicher und örtlicher Annäherung beider Bildungsweisen (Spätpaläolithik der Magle-
mosekultur Dänemarks-Norddeutschlands) bleiben beide ihrer Verwandschaftslosig-
keit wegen sich fremd und unverwischbar. Mit einer wichtigen Folgerung aus der Ver-
wornschen Bestimmung erkennt Scheltema, daß das physioplastische Bilden wegen
seiner Begründung durch die »Ausschaltung des menschlichen Geistes« und durch
das noch weit unterhalb aller Reflexion sich vollziehende Diktat eines natürlichen
Instinkts entwicklungslos, einmalig und isoliert gedacht werden müsse. Die Vor-
bedingung seines Daseins könne nur im Paläolithikum dagewesen sein. Kein späterer
> Naturalismus« entstand auf der Grundlage einer Psyche, die den Dualismus von
Natur und Mensch noch nicht in sich trug. »Auch dort, wo in der späteren Kunst-
entwicklung enge Beziehungen zur Natur auftreten, können diese nichts mehr ge-
meinsam haben mit der instinktiven Naturunmittelbarkeit des primitiven Jägers, d. h.
auch sie entwickeln sich auf ideoplastischer Grundlage. ' Eine zweite Folgerung aus
der Annahme der Verwornschen Feststellung ist für Scheltema die Unmöglichkeit
einer Entwicklung physioplastischer Kunst. In der Tat fordert die Feststellung
einer künstlerischen Entwicklung auch die Existenz geistiger Faktoren; denn Ver-
gleich und Schätzung, die einer Erkenntnis der Entwicklung vorausgehen müssen,
setzen das Vermögen des Urteils und dieses wieder setzt — im einfachsten Fall —
zum mindesten Begriffe voraus, die zueinander in Beziehung gebracht werden, also
geistig aufeinander reagieren müssen. Instinkte aber sind untereinander inkommen-
 
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