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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0386
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376

BESPRECHUNGEN.

Er geht von den Einzelerscheinungen aus, und versucht rein empirisch die Wand-
lungen der modernen Kunstgeschichte zu verfolgen, ohne dieser Betrachtung die
apriorische Konstruktion eines einheitlichen Kunstwollens zugrundelegen zu wollen.

Die inhaltliche Grundkonzeption Dvofäks ist in den folgenden Sätzen zusammen-
gefaßt: »Betrachtet man die Geschichte der christlichen Welt in ihrer Gesamtheit,
so zerfällt sie deutlich in zwei große Entwicklungsperioden. Sie sind nicht scharf
durch ein bestimmtes Ereignis voneinander geschieden und setzen bei den einzelnen
europäischen Völkern nicht gleichzeitig ein. Die erste dauert in ihren letzten Aus-
läufern in fortdauernder Weiterbildung bis gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts (es
gibt auch später noch Rückschläge), die Anfänge der zweiten liegen im späteren
Mittelalter; sie erstreckt sich in die Gegenwart und scheint ihrem Ende entgegen-
zueilen. In der ersten suchen die Menschen den Sinn und das letzte Ziel ihres irdi-
schen Daseins im Jenseits, in der zweiten wurde der Glaube an diese überweltliche
Bestimmung der Menschheit immer mehr verdunkelt durch ein Streben nach irdi-
schen Gütern und durch die damit verbundene Konzentration des menschlichen
Geistes auf Fragen, Probleme und Anstrengungen, mit denen eine Förderung des
weltlichen Hedonismus verbunden war. Diese neue Geistesrichtung der Menschheit
führte zu neuen Formen, Spannungen, schließlich auch Katastrophen im wirtschaft-
lichen und sozialen Leben, zum Welthandel, Kapitalismus, Nationalismus und Impe-
rialismus, in der geistigen Produktion zur Vorherrschaft der Naturwissenschaften
und zu unerhörten technischen Erfindungen, die immer mehr als ein objektiver
Gradmesser des Fortschreitens der Menschheit angesehen und gepriesen wurden,
so daß diese große Periode in der Zukunft vermutlich den Namen des naturwissen-
schaftlichen und technischen Zeitalters führen dürfte.«

Die Worringer-Spenglersche Anschauung sieht ein einheitliches Kunstwollen des
germanischen Geistes von der frühgermanischen, phantastischen Tierornamentik des
Nordens bis zur Gotik, zum Barock und zur Moderne. Im Gegensatz dazu betont
Dvorak die einigende Kraft des Christentums, welche von den Katakombenmalereien
bis zur Gotik eine spiritualistische, rein religiöse Weltanschauung und Kunst ge-
schaffen hat und der seit der Renaissance der weltlich gerichtete, moderne Geist
gegenübertritt. Mit einem Worte gesagt — das Christentum ist für Worringer ein
bloß akzidentelles Moment in der Kunstentwicklung des germanischen Kulturkreises,
für Dvorak aber ist es der eigentliche Exponent der abendländischen Kunstentwick-
lung. Die Zäsuren liegen bei Dvorak in der Zeit Konstantins des Großen und der
Renaissance, bei Worringer und Spengler an dem Beginn unserer Zeitrechnung
(Einsetzen der orientalischen, »magischen Kultur«, aus der später das frühe, vom
abendländischen unterschiedene östliche Christentum hervorwächst) und um das
Jahr 1000 (Beginn der abendländischen Kultur).

Uns scheint eine Synthese der beiden Anschauungen möglich, wenn man sich
des antithetischen Charakters der abendländischen Geistigkeit bewußt bleibt. Zwei
Tendenzen scheinen den gotischen Geist zu beherrschen: die mystische Ten-
denz, die Sehnsucht nach Rausch, nach Extase, nach dem Übersinnlichen, sowie die
klassizistische Tendenz, die Sehnsucht nach dem entgegengesetzten, klassischen
Ideale der Weltfreudigkeit. Zwischen diesen beiden Tendenzen sehen wir den abend-
ländischen Geist immerfort pendeln. Die frühgermanische Zeit, mit ihrer phantasti-
schen Ornamentik und ihrer in unendlichen Weiten verschwimmenden Götter- und
Heldensage ist erfüllt von transzendentalem, vor der unerklärlichen Welt zurückschau-
derndem Gefühle, wie das für eine primitive Frühzeit natürlich ist. Es folgt die
Reaktion: die karolingische Renaissance, zum Teil die Romanik, welche dem anti-
kischen Geiste sich stark nähert. Eine neue, transzendentale Welle — die gewal-
 
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