Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

DOI article:
Adler, Leo: Theorie der Baukunst als reine und angewandte Wissenschaft
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0293
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
THEORIE DER BAUKUNST ALS REINE U. ANGEWANDTE WISSENSCHAFT. 283

anschauliche Vorstellung an stoffliche Abgrenzungen gebunden bleibt.

Mit aller Schärfe müssen wir daher unsere Ansicht festhalten:

Architektonische Raumvorstellung ist als solche
anschaulich und aus eben diesem Grunde an die
Stofflichkeit ihrer Abgrenzungen notwendig ge-
bunden.

Diese Auffassung ist weiterhin zu belegen durch die Baukunst
jener Völker, deren Raumvorstellung im übrigen von der abendländisch-
neuzeitlichen abweicht, was sich z. B. durch das Fehlen der Perspektive
sowohl in der primitiven wie in der ägyptischen Malerei und Graphik
und in der Kunst Ostasiens nachweisen läßt. Die architektonische
Raumvorstellung ist demgegenüber ihrem Wesen nach stets und überall
identisch, ist gebunden an den stofflich begrenzten Raumteil1), inner-
halb dessen Bewegungsmöglichkeit für den Menschen vorhanden
ist oder eine solche zum mindesten angenommen werden kann.

Die Bedeutung dieser Einschränkung — auf deren Notwendigkeit
bereits hingewiesen wurde — ist hier nicht weiter zu erörtern, da es
den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Dagegen steckt in unserer
Behauptung, daß alle architektonische Vorstellung anschaulich sei,
eine Fülle wichtiger Fragen, auf die hingewiesen werden muß. Zu-
nächst: die Theorie der Baukunst ist wie alle Wissenschaft an Begriffe
gebunden. In der reinen Theorie ist das selbstverständlich und führt
zu keinerlei Widersprüchen; ja gerade das Herausarbeiten und die
Festlegung dieser Begriffe ist ihre vornehmste Aufgabe. In der ange-
wandten Theorie aber erhalten alle Begriffe nur mehr nachgeordnete
Bedeutung, werden wichtig nur insoweit, als sie zur Bereicherung oder
Klärung der anschaulichen, architektonischen Raumvorstellung bei-
tragen. Nun ist aber der architektonische Raum als solcher
offenbar keine anschauliche Vorstellung mehr — ebensowenig kann
er sinnlich wahrnehmbar gemacht werden, sei es durch Zeichnung,
Modell oder sonstwie. Anschaulich ist nur die Vorstellung einzelner
Räume (oder Gruppen von solchen), die inhaltlich-zweckhaft (Haus,
Fabrik usw.) oder formal - ästhetisch (barockes Schloß, klassischer
Tempel) näher bestimmt sind.

>) Diese unauflösliche Bindung der architektonischen Raumvorstellung an ihre
stofflichen Abgrenzungen erledigt auch jene für die Praxis der Baukunst wichtige
Frage, die besondere Bedeutung für den Unterricht hat: ob nämlich bei baukünst-
lerischem Entwerfen der Grundriß als die räumliche oder der Aufriß als die stofflich-
körperliche Aufgabe den Vorrang besitzt. Gleichzeitig taucht hier die Frage nach
dem gegenseitigen Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Schönheit auf, was nur
nebenbei erwähnt sei, um die Tragweite unserer Auffassung für Theorie und Praxis
wenigstens von ferne anzudeuten.
 
Annotationen