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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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BESPRECHUNGEN.

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lebendigen Körpers wurzele. Dadurch wird er fähig, in vorher nicht gekannter Weise
Erlebnisse zu verstehen, die Wissenschaft von der Erscheinung zu schaffen. In eigen-
artigem Gegensatz hierzu bricht aber immer wieder seine leidenschaftliche Bevor-
zugung moralischer Probleme durch. Hier liegt ein vulkanischer Seelenkonflikt zwi-
schen Leibesgefühl und sittlichem Pathos: Nietzsche wird zum Richter der Wert-
ansprüche der Vernünftigkeit aus martervoll von ihm erlittener Auflehnung gegen
Wertansprüche der Sittlichkeit; und er wird zu deren grimmigem Feinde, weil gegen
den Felsen der Moralität, an den er selber geschmiedet, der Geist seines Leibes
sich aufbäumt. Dieser tiefe Grund von Nietzsches Wertproblematik erinnert an den-
jenigen religiöser Genies. Was bei ihnen von Geißelhieben des Willens getroffen
wird, die Instinkte und Triebe, eben das jedoch erhebt sich in Nietzsche dämonisch
gegen den Geißelschwinger. Es ist der Gegenangriff der Instinkte des Leibes durch
den Umweg des Kopfes. Von dieser charakterologischen Position aus wirft Klages
ein neues Licht auf Nietzsches psychologische Stellungnahmen in ihrer gesamten
Neuartigkeit und Kühnheit — aber auch in ihrer tiefen Zwiespältigkeit. Er tut dar,
wie Nietzsche aus der Besinnung auf die Natur seiner Leiblichkeit und deren orgi-
astischer Impulse gerade die höchstbewerteten Eigenschaften des geschichtlichen
Menschen auf ihre Teilhaberschaft am egoistischen Erfolgswillen durchforscht, und
wie er diesen in den scheinbar völlig entgegengesetzten Charakterzügen enthüllt.
Nietzsche wird hier zum Entdecker einer eigentümlichen Technik der Selbsttäuschung,
kraft deren das Ich seine selbstischen Regungen vor sich selber umdeutend ver-
heimlicht; aus dieser Selbsttäuschung entspringen sämtliche Ideale und Sittlichkeits-
anschauungen, die in der Heiligung aller Selbstüberwindungen gipfeln. Liegt hier
Nietzsches große psychologische Grundieistung, so liegt in ihrer Überspannung zu-
gleich auch die Auswirkung jenes verheerenden Selbstwiderspruchs, daß der gleiche
Denker, der wie kein anderer die Verbrechen des Willens zur Macht am Leben
enthüllt hat, das Leben selber als eben diesen Willen zur Macht zu verstehen unter-
nimmt. Diesen inneren Widerspruch weist Klages nicht nur sachlich im Gesamt-
bereich Nietzsches nach; er führt ihn zugleich auch charakterologisch auf den seeli-
schen Konflikt zurück, mit dessen Enthüllung er begonnen hatte. Nietzsches Formel,
die sein Wesen umfassen würde, ist die: er war der Kampfplatz der Orgiasten, den
er uns geschildert, mit dem asketischen Priester, den er uns entlarvt hat. Er war

— in der kürzeren Sprache des Mythos — der Schauplatz des Kampfes zwischen
Dionysos und Jahve. Vom Standpunkt des Jahvisten bedeutet er einen entgleisten
Priester, vom Standpunkt des Bakchen einen Orgiasten, der verwunschen wurde,
»in Ketten zu tanzen«, vom Standpunkt des Lebens unabwendbare Selbstvernich-
tung, vom Standpunkt aber der Erkenntnis einen tragischen Glücksfall ersten Ranges

— denn eben der Hochspannung dieses Gegensatzes verdanken wir die Lichtstärke
von Nietzsches Denken.

Ist mit Klages der Gipfelpunkt dessen bezeichnet, was dies Jahrbuch an ge-
danklicher Leistung enthält, so geschähe dennoch den anderen Beiträgen ein Un-
recht, wenn man sie nicht des aufmerksamsten Studiums würdigte. L. Marcuse fragt
nach der »Struktur der Kultur« und kommt gleich Prinzhorn und Müller-Freienfels
auf die zentrale Stellung der Erlebnisproblematik. Weltkonstellation und Erlebnis
stehen im funktionellen Zusammenhang; der einzelne Mensch ist, wie er ist, nicht
von Gottes Schöpferhand so, sondern von Umgebungen und Beruf typisch diffe-
renziert. Dieser objektive Bestimmungsfaktor wird nun aber in dem Maße bedeu-
tungsärmer, als eine innere Spontaneität so übermächtig wird, daß die objektive
Welt nur noch bloße Auslösung innerer Erlebnisse wird. Werden die seelischen
Möglichkeiten von innen her spontan, formen sie sich zu solchen Gebilden aus,
 
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