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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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Dessoir, Max: Kunstgeschichte und Kunstsystematik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0153

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KUNSTGESCHICHTE UND KUNSTSYSTEMATIK.

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gestalten auf verschiedene Stile, beispielsweise das Ideal-Schöne auf
die klassische Kunst. Mit einem Wort: in der gesamten Kunstsystematik
findet sich kein geschichtsfreier Satz. Das scheint den Dogmatikern
ein Ärgernis, und daher haben sie das vergleichende Verfahren zu Hilfe
gerufen. Dies Verfahren, von manchen für die entscheidende Methode
sämtlicher Geisteswissenschaften erklärt, soll nämlich die allgemeine
Erkenntnis vom Einbruch der geschichtlichen Einzeltatsachen be-
freien und durch Nebeneinanderstellen der vielen Erscheinungsformen
der Kunst zum bleibenden Wesen der Kunst leiten können. Schon
Gervinus und Semper1) haben den Wert der Vergleichung in be-
stimmten Grenzen anerkannt, doch erst später ist ihr die Kraft zuge-
schrieben worden, Wesen und Norm der Kunst zu enthüllen. Wir
müssen uns hüten, hierin zu weit zu gehen. Will man nach alter Vor-
schrift die Ähnlichkeiten zwischen den Kunstschöpfungen aller Arten,
aller Zeiten, aller Völker in einer Begriffsbestimmung zusammenfassen,
so kommt etwas unsagbar Gleichgültiges heraus. Jeder wirklich wesent-
liche Satz über Kunst, jedes mit Blut gefüllte Wort entspringt einer
Person, einer Zeit, einem Volk. Aber gemeint wird von allen Wissenden
stets dasselbe, so verschieden sie reden mögen; selbst das, was
Aristoteles über die Tragödie geschrieben hat, ist so beschaffen, daß
wir noch heute beim Lesen plötzlich den eigenen Herzschlag verspüren.
Wenn man das Leben der zeitlichen, nationalen, persönlichen Bedingt-
heit vernichtet und durch Vergleichung zahllos vorliegender Gestalten
eine tote und nichtssagende Formel herstellt, so ist damit ein unnützes
Opfer gebracht, da ja im Verschiedenartigen — und zwar bei voller
Erhaltung dieses Verschiedenartigen — eine geistige Gemeinsamkeit
enthalten sein kann.

Man muß freilich das »Enthaltensein« recht verstehen. Die Kunst,
die den Gegenstand der Theorie bildet, ist nicht ein Gemenge aus
Teilen, die durch die Geschichte hindurch verstreut sind, sondern
sie ist ein ideales Gebilde, das den einzelnen Tatsachen werthaften
Sinn gibt, ein Gebilde von solcher schöpferischen Kraft und zu-
gleich von solcher Beweglichkeit, daß eine bunte Fülle darin aufge-
nommen werden kann. Es kommt darauf an, die in der Sache selbst
liegende Einheit zu entdecken, durch die alles Einzelne von innen
her miteinander verknüpft wird, genauer: das Immanenzverhältnis
des Begrifflichen mit dem Geschichtlichen. Gleichwie Wirklichkeit und
Möglichkeit — bei Aristoteles — einander fordern, wie Form und
Stoff — bei Kant — aufeinander angewiesen sind, wie demnach, all-,
gemein gesprochen, Sinngehalt und Erscheinung stets zusammen-

') Nachweise bei Rothacker a. a. O. S. 104 f.
 
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