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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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Wittsack, Richard: Rhythmus und Vortragskunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0259

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RHYTHMUS UND VORTRAGSKUNST.

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bei der Ausdrucksgestaltung bis zum Mätzchenmachen herabsinkt, der
nur auf die durch seine Person mögliche Wirkung den Vortragsvor-
wurf, die Dichtung, ansieht und vortragskünstlerisch beispielsweise eine
besonders resonatorische Sprechveranlagung, ein gerade ihm liegendes
Piano immer und immer wieder anbringt und passend oder unpassend
in die Dichtung hineinarbeitet. — Eine andere Form liefert der Typus,
der bei der Sprechgestaltung jede Dichtung weltanschaulich nach seiner
politischen oder religiösen Einstellung um- und ausprägt. Wieder anders
verhält sich der Vortragskünstler der Dichtung gegenüber, der vorgibt,
so stark mit und in der Zeit zu leben, daß er in gewissen Zeitabstän-
den immer wieder andere Ausdrucksformen für die künstlerische Ge-
staltung ein und desselben Wortkunstwerkes wählen müsse. Auch der
Typus, den ich aus der Fülle der möglichen Variationen und Kom-
binationen noch erwähnen möchte, gehört hierher, der verlangt, daß
beim Sprechen eines Wortkunstwerkes nicht die Schallform, sondern
allein und entscheidend der Bedeutungswert berücksichtigt werden
müsse. Denn auch die Vertreter dieses Typus machen ja mit dem
Kunstwerk des Dichters ganz, was ihnen beliebt. Man spricht bei
dieser letzten Vortragsart, die oft bei rein intellektuell eingestellten
Menschen zu finden ist, von einer recht einfachen und natürlichen;
wir möchten sie als völlig unkünstlerisch bezeichnen.

Alle Vertreter der ersten Gruppe — die zuletzt genannten
ausgenommen — stellen sich beim vortragskünstlerischen Gestaltungs-
prozeß in den Mittelpunkt. Sie legen den Hauptakzent auf ihr Schaffen
und berücksichtigen wenig oder so nebenbei das Werk des Dichters.
Sie vergewaltigen es mehr oder weniger stark.

Anders die zweite Gruppe, die da sagt: Meine Freiheit als
Sprechkünstler ist begrenzt; freilich nicht so weit, wie es Sievers und
Rutz verlangen. Vertreter dieser Gruppe sehen die Situation so: Auf
der einen Seite liegt das fertige Werk des Dichters vor, auf der andern
stehe ich, der Sprecher, mit meiner Kunst — der Sprechkunst.
Meine Aufgabe ist, das fertige Werk des Dichters, die Vorlage für
meine Kunst, zu benutzen und die Dichtung durch meine Kunst in
ein sprechkünstlerisches Werk umzusetzen. Meine Situation ist also
eine andere als beispielsweise die des Bildhauers, der den unbehauenen
Marmorblock in künstlerische Form bringt. Ich habe bereits eine fer-
tige künstlerische Form — das Wortkunstwerk des Dichters —,
ich muß also bei meiner Arbeit am Stoff auf die Besonderheiten des
Wortkunstwerkes eingehen und eine Verbindung der beiden künst-
lerischen Ausdrucksmöglichkeiten, Sprachwerk des Dichters und
Sprechwerk der Vortragskunst, herstellen. Ich muß also als
Nachschaffend -Erschaffen der wirken.
 
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