Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 2.1908/​9

DOI Artikel:
Kawerau, Georg: Holzsäulen im dorischen Bau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.19219#0246

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
232 Georg Kawerau.

Auskragungen ein natürliches Konstruktionselement, während beim Stein dieses Mittel
nur in sehr beschränktem Maße anwendbar ist. Sobald man in das entwickelte System
der gemischten Bauweise die Steinsäule einführte, ergaben sich neue Bedingungen.
Jetzt war das breite Auflager nicht mehr zu gewinnen, wenn nicht schon ein starker
oberer Säulendurchmesser angenommen wurde. Zumal wenn, wie in Olympia, ein ziem-
lich weiches Material verwendet wurde, waren tragfähige Ausladungen, wie sie das Holz
ohne weiteres hergibt, nicht mehr zu erzielen. Der obere Säulendurchmesser muß sich
nach der Auflagerbreite des Architravs richten und darf nicht viel hinter dessen
Breitenmaß zurückbleiben. Man hat sich gewöhnt, dies als eine ästhetische Forderung
anzusehen, es ist aber zunächst eine technische Bedingung.

Haben sich die Formen des dorischen Steinbaus aus den technischen Bedingungen
der gemischten Bauweise entwickelt, und zwar teilweise ganz unmittelbar aus den Holz-
vorbildern, so nimmt doch die dorische Steinsäule in dieser Entwicklung eine Ausnahme-
stellung ein: sie verdrängte die alte Holzsäule, aber nicht von ihr entnahm sie ihr Vor-
bild. Wenn wir die Entstehung der ionischen Kapitellform aus dem Sattelholz immer
mehr als einen natürlichen, ohne große Sprünge vor sich gehenden Entwicklungsgang
verstehen lernen, so wird andrerseits immer deutlicher, wie im dorischen Bau die Stein-
säule mit ihrem dorischen Kapitell dem früheren Holzbau als eine bewußte Neuschöp-
fung gegen übertritt — das neue Material erzwang die Erfindung neuer Formen und
Verhältnisse. Mag man immerhin in den Säulen von Knossos oder vom Löwentor
Vorbilder für das dorische Kapitell finden, mag man anderswo Vorläufer entdecken —
gerade bei der dorischen Säule scheint mir die Erfindungskraft des Künstlers durchzu-
leuchten, die wohl Anregungen mancher Art in sich aufnimmt, aber doch auf die neue
Aufgabe mit einer freien künstlerischen Tat antwortet. Denn eine bestimmte Aufgabe galt
es zu erfüllen, nicht, eine Säule schlechthin zu zeichnen, vielmehr die Aufgabe, in einem
Bau, dessen schwere Verhältnisse aus dem Material entstanden und durch die Tradition
geheiligt waren, die gewohnte Holzsäule durch eine Steinsäule zu ersetzen. Daß diese
Aufgabe tatsächlich dem Künstler gestellt wurde, sehen wir am Beispiel des Heraions,
und einmal ist sie zum erstenmal gestellt worden. Da mag es einer glückliehen Künstler-
hand gelungen sein, diesen Typus zu finden, der für das Wesentliche der technischen
Aufgabe den kräftigen, überzeugenden Ausdruck bietet. Wie auch immer in der wei-
teren Bewegung der Kunst diese Grundform abgewandelt wurde, die einfache Klarheit
der ersten Erfindung besaß eine Lebenskraft, die nicht umzubringen war, der konstruk-
tive Grundgedanke bleibt immer deutlich, wenn auch die Formen abmagerten und das
Gefühl für die Schönheit der Kraft mit der Zeit verloren ging. Anders beim ionischen
Kapitell. Hier beginnt schon in früher Zeit der klare Grundgedanke zu verblassen.
Je prächtiger sich die Voluten entwickeln, um so weiter entfernt man sich von der Ur-
gestalt; was früher ein aufgemaltes, zufällig gewähltes Ornament war, wird zum eigent-
lichen Hauptstück der Bauform.

Aber — dies zugegeben — möchte ich doch in diesem Zusammenhang auch für
die Meister des ionischen Kapitells eintreten, denen, wie ich glaube, in einem Punkt
häufig Unrecht getan wird. Viele Kunstschrift steller sind sehr unzufrieden mit dem
ionischen Eckkapitell und finden harte Worte zu seiner Charakterisierung, F. v. Reber1
bezeichnet es als «eine geradezu verzweifelte Komplikation». Ist das wirklich so? Ich

1 Über die Anfänge des ionischen Baustils. München 1900.
 
Annotationen