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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 20.1904

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Heft 6
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Das neue preußische Herrenhaus in Berlin
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Formenschönheit und Stilentwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.44901#0055

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1904

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 6


Wandelhalle des Herrenhauses.
Die breit hingelagerte gewaltige Baumasse des Herren-
hauses mit dem weit einspringenden Hofe hat dem oberen
Teile der Leipzigerstraße einen völlig veränderten Charakter
verliehen. Die vornehme Abgeschlossenheit der Anlage und
die überlegene, fast abweisende Ruhe ihrer strengen architek-
tonischen Gestaltung stehen gerade hier in wohltuendem Gegen-
satz zu dem wüsten Durcheinander von sich übertrumpfenden
Geschäftshäusern und Firmenschildern, gegen das bisher keins
der öffentlichen Gebäude in dieser Hauptverkehrsstraße Berlins
aufzukommen vermochte.
Die klare Lösung der gestellten Aufgabe durch die über-
sichtliche Anordnung der Räume und ihre von falschem Pathos
freie Ausstattung, die ungesuchte Verschmelzung repräsentativer
Würde und vornehmer Behaglichkeit, besonders in den Wohn-
räumen der Präsidenten, fanden bei Eröffnung der ersten
Sitzung des Herrenhauses warme Anerkennung durch die
Dankesworte des Vizepräsidenten an den Erbauer für das
»Werk von künstlerischer, nicht prunkhafter, aber gediegener
praktischer Ausführung«.


Modelliert von Professor W. Wiedemann.

Friesfüllung aus der Wandelhalle.

Formenschönheit und Stilentwicklung.
einem Vortrag über die Theorie der Baukunst im 19. Jahrhundert,
IW gehalten im k. k. Österreichischen Museum in Wien, schilderte
Geh. Hofrat Cornelius Gurlitt die im Laufe der Jahrhunderte so
uncj so off wiederholte Rückkehr zu den schönen Verhältnissen
der klassischen Zeit des Altertums, wie man auch früher immer wieder in
Zeiten künstlerischen Kraftbewußtseins selbständig neue Formen zu schaffen
gesucht habe und doch immer wieder zu den Schönheitsregeln des Vitruv
zurückgekehrt sei, nachdem das Neue der Vergessenheit anheimgefallen war.
Auf die Spätrenaissance folgte das selbstherrliche Barock, auf das Barock der
neue französische Stil, der auf Befehl Ludwigs XIV. und als Ausdruck der
damaligen Größe Frankreichs geschaffen werden sollte. An der neu be-
gründeten Pariser Bauakademie spielten sich damals ähnliche Kämpfe ab,

wie sie heut wieder die Architekten in verschiedene Lager teilen. Der
König schrieb einen Wettbewerb aus, der die Erfindung dieses neuen
französischen Stils, der französischen Säulenordnung, zeitigen sollte.
Während Perrault, der Erbauer des Louvre, für die in diesem Wettbewerb
zu Tage getretenen neuen Ideen eintrat, indem er darauf hinwies, daß
die den antiken Bauten entnommenen Verhältniszahlen doch auch dereinst
durch die freie Tat großer Künstler entstanden seien, verfocht Blondei die
überlieferte akademische Regelmäßigkeit, deren Gesetze feststünden und
deren befriedigende Wirkung durch jede, auch die geringe Abweichung
zerstört werde. Und Blondei siegte! Abermals setzte Schinkel an die Stelle
des Schemas das Schaffen im Geiste der Alten. Und nach ihm zeigte
Semper, daß der Baustoff entscheidend sei für die Wirkung des Werks.
Und Baugedanke und Baustoff standen bald im Kampfe mit den über-
lieferten Schönheitsregeln.
Es kamen Eisen und Glas als neue Baustoffe; es entstanden die Glas-
paläste der Weltausstellungen und die Bahnhofshallen. Mit Staunen sah
man, daß die neuen Baustoffe und die neuen Bauaufgaben neue Formen,
neue Verhältnisse forderten und man erwartete eine Neugestaltung unsrer
künstlerischen Ausdrucksmittel, das Entstehen eines neuen Stils. Bisher
ist freilich weder ein neuer Stil in Anlehnung und Fortbildung des alten
entstanden, noch ein Kunststil für Eisen und Glas gekommen. Die Ver-
suche, neue Kunstformen frei zu erfinden, haben zu wirklich durchschlagen-
den Erfolgen nicht geführt.
Und doch vollzog sich durch die Einführung neuer Bauaufgaben
und neuer Bauformen ein gewaltiger stilistischer Wandel. Ob die neuen
Formen schön, ob sie Kunstformen sind, darüber gehen die Meinungen
heute noch völlig auseinander. Dem einen erscheint die Eisensäule un-
schön, weil sie zu schlank ist, den andern vermag das Gegitter eiserner
Stangen und Träger an einem Hallendach nicht zu befriedigen und doch
haben sich die Bestrebungen aussichtslos erwiesen, durch Umkleidung der
Konstruktion mit Kunstformen den Eisenbau ästhetisch zu heben und mit
Recht sieht der Ingenieur in diesen Kunstformen zumeist nur unnützen
Plunder. Und doch finden viele, sehr viele Eisenbauten, wie den Eiffel-
turm und die Firth of Forth-Brücke schön, obwohl sie nichts von den »Ver-
hältnissen« an sich haben, die nach alter Theorie einen Bau schön machen,
und alle Jahre wächst die Zahl derer, die so empfinden, zusehends. Die
Eisensäule, die früher viel zu dünn erschien, ist heute gerade recht. Eine
schöne Eisenbrücke wird wegen ihrer Leichtigkeit und Durchsichtigkeit
schon nicht mehr als minder haltbar
empfunden. Es ist ein neues Durch¬
bilden der allgemeinen Empfindung
für das Verhältnis der Stärke, der
Stütze zur Last in der Entwicklung
begriffen. Die neue Verhältnislehre
stimmt uns unverkennbar um, die
uns, weil sie sachlich verständig und
richtig ist, nun auch ästhetisch be¬
friedigend erscheint. Aber nicht die
geniale Tat eines Künstlers schuf sie,
sondern der Praktiker. Der als un¬
edel angesehene Eisenbau ist nicht
von den Architekten veredelt, son¬
dern zum schönheitlichen Faktor ge¬
worden, als man an seiner Veredlung
verzweifelte und ihn seine Wege
gehen ließ. Die Eisenbauten werden
nicht als schön empfunden, weil wir
sie den überlieferten ästhetischen
Regeln einordnen lernten, sondern
die ästhetischen Gesetze haben sich
der Tatsache unterzuordnen, daß das
einst als häßlich Empfundene uns
nun schön erscheint.
Das Schöne ist das, was allge-
mein gefällt. Deshalb erscheint das
Neue zunächst oft unschön, ob¬
wohl es der Ausdruck der besonderen
tatsächlichen Bedürfnisse und des
eigenen Empfindens ist. Es wird
vielleicht, nicht immer, in abseh¬
barer Zeit schön, nicht weil das Ge¬
bilde sich ändert, sondern weil die
Allgemeinheit Gefallen an dem einst Detail vom Hause Leipzigerstr. 92 in Berlin,
als häßlich Geltenden finden lernt. Architekt: Georg A. Rathenau daselbst.
So entsteht eine neue Kunst, entstehen neue Verhältnisregeln, eine neue
Schönheitslehre. So ist zu allen Zeiten das Urteil der Allgemeinheit
wandelbar gewesen und kein Kunstwerk ist dauernd geschätzt worden.
Deshalb sollte man, wenn man wahre Kunstgeschichte schreiben will, nicht
die Kunst am Urteil, sondern das Urteil an der Kunst messen.
Daraus ergibt sich aber deutlich, daß das Schaffen sich nicht auf
schönheitliche Ziele richten soll, nicht auf das, was die Allgemeinheit schön
findet, nicht auf fertige Ideale; sondern daß das Schaffen die Form in der
Aufgabe suchen soll, gleichviel ob die Form der Allgemeinheit gefällt oder
nicht. Denn nur das hat einen wirklichen bleibenden Wert, was in die
Umgestaltung des Urteils mit eingreift, also wenigstens zum Teil dem Urteil
der geschmackvollen Leute widerspricht: Denn Geschmack hat der, der im
Urteil der Allgemeinheit steht! Die neue Zeit kommt unaufhaltsam, denn
keine Macht der Erde vermag die alte festzuhalten. Die neue Zeit hatte
regelmäßig, trotz aller ästhetischen Reglements, eine neue Kunst. Diese
muß im Widerspruch zum Schönheitsempfinden von Vergangenheit und
Gegenwart stehen. Das heißt für die Urteilenden: Was da neu herauf-
kommt, das betrachte mit Vorsicht und Aufmerksamkeit. Denn deine Auf-
gabe ist es nicht, es an deinem Urteil zu messen, sondern dein Urteil daran
zu bilden. Die Kunst hat die Führung, nicht die Ästhetik; die Kunst macht
die Gesetze, nicht die Kunstlehre! Sich beugen vor der Kunst, das heißt
sie richtig beurteilen!


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