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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 20.1904

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Heft 9
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Gurlitt, Cornelius: Kirche und Kunst
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Die neue Gare d'Orléans in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.44901#0080

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1904

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 9


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Gare d’Orleans in Paris.
Schalterhalle.

Architekt: Laloux in Paris.

Staat und Kirche haben es dringend nötig, die ernsten Menschen um
sich zu sammeln. Eine künstlerische Bildung wird sie lehren, die rechten
Männer zu finden, damit die Kunst Raum gewinne in Staat und Kirche.
Die, welche der Zeitkunst zürnen, die sie nicht begreifen, die sie anklagen,
sind sicher solche Männer nicht. Die Gesellschaft sollte darüber wachen,
daß an leitender Stelle nicht das Urteil über die Kunst gesprochen werde,
sondern daß man dort sie verstehen lerne, ihren Äußerungen nach Maß-
gabe ihrer Innerlichkeit die Wege zu bahnen trachte.
Wir aber, Lehrer und Studierende der Technischen Hochschule, wollen
nie vergessen, daß wir Mitglieder eines künstlerischen Institutes sind
— dies mehr als eines wissenschaftlichen. Nicht weil bei uns auch der
Weg in ein Gebiet gewiesen wird, das allgemein zur Kunst gerechnet
wird und in ihr den Schwerpunkt hat — zur Architektur — sondern weil
alle unsere Disziplinen in letzter Beziehung produktiver, nicht deduktiver
Art sind. Nicht umsonst steht über der Haupttreppe unserer Hochschule
der Genius der Erfindung, nicht der der Entdeckung, der eine Univer-
sität zieren würde.
Nicht nur wollen wir die Wahrheit in der Welt der Erscheinungen
finden und sie zergliedern, sondern wir wollen aus dem Gefundenen,
Zergliederten heraus das Neue, noch nie Gesehene, schaffen. Das ist
Kunst, und darum sind die Technischen Hochschulen künstlerische Institute!
Ihr Zweck ist, mitzuarbeiten an dem Kommen einer künstlerischen, pro-
duktiven Zeit; ihr Aufblühen ein Beweis dafür, daß eine solche Zeit
anbricht!


Die neue Gare d’Orleans in Paris.

Aber Kirche und Kunst können sich vereinen in einem Gebiet, im
Kultus, das heißt in der gottesdienstlichen Form. Da haben sie sich ge-
troffen, längst ehe man die philosophische Formel dafür fand. Die Einheit
der Künste, die Richard Wagner der Oper erkämpfte, sie war im Gottes-
dienst längst erreicht. Die Kunst der Rede, des Tones, ja des Tanzes,
die bildenden Künste, sie alle haben dem Menschen geholfen, seinen Glauben
zum sinnenfälligen Ausdruck sich und anderen zur seelischen Erhebung
darzubringen. Das sind Opferhandlungen, Darbietungen des Menschen in
seiner Not und Dankbarkeit vor Gott. Und alle Zeiten sind sich klar ge-
wesen, wenigstens alle tiefgläubigen Zeiten, daß es nicht die feststehende,
gesetzmäßige, ja nicht einmal die schöne Form sei, in der diese Kunst
auftreten solle, sondern daß ihr Wert in ihrer Innerlichkeit und Innigkeit
beruhe; darin, daß jeder Teilnehmer unbefangen aus sich heraus das dar-
stellt, was er an gläubigen Erfahrungen, an Gotteserkenntnis besitzt.
Und daher soll man die Kunst nicht nach ihren Ergebnissen beur-
teilen, nicht eine irgendwie geartete Kunst fordern; sondern man soll
sie auf ihre Innerlichkeit prüfen und darauf, daß das Ergebnis dieser ge-
mäß sei.
Eine ernste Mahnung an alle, die es in der Hand haben, Kunst zu
fördern und Künstlern die Wege zu bahnen, damit sie das in ihnen Rei-
fende dem Volke offenbaren können! Schwer nur gelingt es dem Künstler,
zu selbständigem Ausdruck zu gelangen. Er kämpft einen
Kampf gegen die eigene Unfähigkeit, sich auszudrücken,
der Tausende erliegen, die einst froh und freudig sich ans
Werk machten, echte Künstler zu werden. Man habe Mit-
leid mit ihnen, wenn sie streben, ringen, irren! Selten wird
man bei einem wahren Meister finden, daß er mit sich
selbst zufrieden sei; seltener, daß fremder Rat ihm nützen
kann. Die Kunst muß, wie der Glaube, von innen heraus
gerungen werden. Darum empfinden die echten Künstler
auch so tief und bitter die Wucht der Heuchelei in ihrem
Kreise, das Vordrängen jener, die zwar geschickte Hände,
aber nicht scharf entwickelte Sinne und ein bildendes Herz
haben; jener, die Kunstwerke nach Wunsch und zeitläufigem
Geschmack schaffen, die sie nicht selbst empfanden.
Bitterer noch berührt sie die Zurücksetzung, daß das
Eigene, weil es sich menschlich unvollkommen der Seele
entringt, verhöhnt wird gegenüber dem Entlehnten, das der
Masse gefällt. Und je höher die Aufgabe, desto tiefer die
Wunde, die dem Künstler durch Ablehnung geschlagen
wird. Leicht sind der Zeitkunst durch eine rasche Maß-
regel der Gewalthaber die Flügel beschnitten. Nur langsam
oder vielleicht nie wachsen sie nach. Und was kann dem,
der im Innern nach Erkenntnis suchte, mehr den Geistes-
flug beschneiden als der Hinweis auf die fertigen Ergeb-
nisse fremder Erkentnis; als der Vorwurf, daß er sich
nicht untreu wurde, nicht ihm rückständig erscheinende,
ältere typische Formen aufnahm; daß er in eigener Seele
nach Inhalt und, wenn auch unvollkommenem, Ausdruck
suchte. Die Männer der Kirche glauben so oft, ihre theo-
logische Ästhetik sei ästhetische Theologie; sie merken nicht,
wie pfäffisch ihre wohlgemeinte Unduldsamkeit in künst-
lerischen Dingen dem Künstler erscheint. Die Kirchlichkeit
der Kunst liegt nicht im Stil und nicht in der Schönheit,
sondern darin, daß der Künstler beim Schaffen empfand.
So nur wird die Kunst zum Gebet!

Mit der Fertigstellung des Pariser Stadtbahnhofs der Linie Paris-
Orleans ist die Weltstadt an der Seine um ein großes und ansehnliches
Bauwerk reicher geworden, das sich unter den neuzeitlichen Riesenbauten
aus Eisen und Glas durch eigenartige Anordnung und echt französisch-
moderne Gestaltung auszeichnet. Der Bahnhof liegt mitten in der Stadt,
nahe dem Louvre, gegenüber dem Garten der Tuilerien und unweit des
»schönsten Platzes der Welt«, der Place de la Concorde, durch den Seine-
fluß davon getrennt, zwischen der breiten Rue de Lille und dem Quai
d’Orsay. Wo sich jetzt das prächtige Bahnhofsgebäude über der hohen
Uferstraße des Seinequais und den vorgelagerten niederen Stätteplätzen
und Anlegestellen der Flußfahrzeuge erhebt, standen noch vor kurzem die
rauchgeschwärzten schweren Trümmermauern der Cour des Comptes, jener
stillen Ruine, die den Parisern die grauenvolle Erinnerung an die Petro-
leure des »schrecklichen Jahres« wachhielt. Grüne Büsche wuchsen auf
den geborstenen Mauern, Schlinggewächse und Farne in den klaffenden
Fugen der mächtigen Steinblöcke und die Kronen wildwachsender Bäume
schimmerten durch die Öffnungen der Fenster, deren gelbliche Sandstein-
leibungen vom Feuer gebräunt und vom Rauch geschwärzt zwischendurch
die hellroten Töne des im Feuer gefritteten Sandsteins zeigten. — Das wun-
dersame Bild dieser inmitten des wogenden Lebens aufragenden Trümmer,
in denen die Ruhe des Kirchhofes nur selten vom Tritt eines einsamen


Gare d’Orleans in Paris.
Ankunftshalle.

Architekt: Laloux in Paris.

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