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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 20.1904

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Heft 9
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Gurlitt, Cornelius: Kirche und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.44901#0079

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1904

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 9

entscheiden, ist unmöglich. Denn zn einem Richtersprnch bedarf es eines
von beiden Parteien anerkannten Gesetzes. Und ein solches bietet weder
Theologie noch Ästhetik. Also nehme ich auch in der Entscheidung, die
ich hier treffen will, eine Gültigkeit nur für mich in Anspruch.
Die Kirche ist eine Organisation, die Kunst ist es nicht. Beide lassen
sich also nicht unmittelbar vergleichen. Der Glaube ist das Gegenstück
zur Kunst, die Religion das der Kunstpflege. Glaube aber ist Lebens-
gemeinschaft mit Gott; die Kunst aber ist Lebensgemeinschaft mit der
göttlichen Schöpfung. Gott ist das Ursprüngliche, die Schöpfung das Ab-
geleitete. Der Glaube steht also über der Kunst.
Beide stehen sich also im Ursprung wie in ihrem ganzen Wesen
außerordentlich nahe. Sie sollten auch auf ihrem Wege sich begleiten.
Vor 15 Jahren etwa trat im Rembrandtdeutschen ein Prophet auf, der
das Kommen eines künstlerischen Zeitalters voraussagte im Gegensatz zu
dem wissenschaftlichen 19. Jahrhundert. Man hat ihn bitter verhöhnt,
gerade wegen seiner Unwissenschaftlichkeit. Kunst aber ist nicht lediglich
Erstreben des Schönen, Beschäftigung mit dem Schönen. Sie ist jedes
Schaffen aus der Naturerkenntnis, aus der sinnlichen Wahrnehmung heraus.
Das kann sich sehr verschiedenartig äußern. Ihr Wesen aber ist Produktion:
Erfinden von Dingen, die vorher nicht oder doch nicht so da waren, wie
sie nun erscheinen. Und da der Mensch nicht dazu lebt, um lediglich zu
genießen, sondern vor allem um zu wirken, sich und noch viel mehr andern
zu Nutze zu wirken, so ergibt sich, daß die Produktion, das schöpferische
Handeln höchster Zweck unseres irdischen Daseins, der vollendetste Aus-
druck der Liebe ist. Denn die Liebe ist nicht nur ein Empfinden, sie wird
erst wertvoll, wenn sie zum wirksamen Handeln sich erhebt. Und damit
zeigt sich, daß die letzte, höchste Leistung des Menschen immer Kunst
ist. So ist die Technik Kunst. Die Maschine, die Brückenbauten sind nicht
Erzeugnis wissenschaftlich mathematischen Denkens. Sie entstehen aus
der Erkenntnis der Natur und ihrer Kräfte, durch das, was wir technisch
den »Entwurf« nennen, durch die zeichnerische Darstellung des innerlich
Erschauten. Die Wissenschaft dient dazu, das Gefundene zu prüfen. Aber
sie selbst ist nicht schöpferisch. Sie ist deduktiv, nicht produktiv. Man
betrachte das Werden etwa des philosophischen Gedankens. Er entsteht
nicht durch das logische Aufbauen von Gründen zu einem Schlüsse, son-
dern er ist ein Erkennen einer Wahrheit aus der Beobachtung der Welt
heraus, das durch logische Gründe nachträglich gestützt wird. Das Sprung-
weise, das Einschlagen des erfinderischen Funkens ist das Maßgebende.
Alle Wissenschaft ist Vorbereitung oder Folgerung des künstlerisch Ge-
schaffenen. Denn Wissenschaft ist das, was man lehren kann; Glaube und
Kunst aber sind das Unlehrbare. Man kann auf andere Wissen übertragen,
nicht aber seelisches Können. Nie kann ein Unterricht sich auf das innerste
Wesen der Kunst beziehen. Es ist daher kein Wunder, daß es keine
Kunstlehre gibt, oder doch, daß keine solche im Wechsel der Zeiten aus-
hielt. Wir können nicht hoffen, in der Technik, in der Kunst dauernde
Gesetze zu entwickeln, wie dies der reinsten Wissenschaft, der Mathematik,
gelang. Denn das System, die Lehre beschäftigt sich in der Kunst natur-
gemäß nicht mit deren innerstem Kern, dem geistigen Schauen und dem
Bekennen des Erschauten. Die Kunst verträgt keine feste Kunstlehre. Wo
man deren Herrschaft erzwingen will, schafft man den Streit. Und wo der
Streit mit dem Siege einer Kunstlehre, und sei es der tiefsinnigsten, endet,
da folgt die Verödung, die Kunstleere!
Die Kunst ist eben nicht nur ein Erfinden und Darstellen, sondern
auch, gleich dem Glauben, ein Bekennen. Sie zwingt den Künstler, von
seinen sinnlichen Erfahrungen Zeugnis abzulegen. Das ist der Grundstein
beim geschichtlichen Werden der bildenden Künste. Sie treten auf als Dar-
stellung roher menschlicher Gestalten; als solcher mit tierischen Gliedern,
die übermenschliche Eigenschaften der Gottheit versinnlichen sollen. Die
Naturgewalten werden staunend beobachtet; man sucht ihren Erreger,
da der Mensch hinter den Dingen naturgemäß das Menschliche sucht;
man fordert vom Bildner Darstellung des im Geist Geahnten. Der Bildner
schafft somit den Gott menschlich, doch mit Zügen, die über das Menschen-
tum erhöhen sollen; er schafft ihn aus der Phantasie heraus. Die Phan-
tasie kann aber über das sinnlich Wahrgenommene nicht hinweg: sie kann
dies im Maß verändern; sie kann das Verschiedenartigste zusammentragen;
aber noch nie schuf sie etwas, was nicht auf dem vorausgehenden sinn-
lichen Erkennen beruht. Alles Fortschreiten der Kunst besteht im Wachsen
der sinnlichen Erkenntnis der Natur in der Vertiefung des Schauens. Das
Mischwesen, das die Phantasie schuf, wird vom reiferen Künstler als
minderwertig erkannt; von dem, der gelernt hat, die Form genauer zu
beobachten. Aus der als gottähnlich geglaubten, künstlerisch rohen Götter-
gestalt entsteht der ganz vermenschlichte Gott, und zwar im Widerspruch
zu jenen, die, künstlerisch minder befähigt, gerade in der Menschenunähnlich-
keit das Göttliche sahen. Denn mit dem Fortschreiten der Erkenntnis des
unendlichen Reichtums der Natur siegt überall die Gewißheit, daß der
Mensch die letzte höchste Aufgabe alles künstlerischen Schaffens ist: die Dar-
stellung des einzelnen Menschen in seiner Eigenart oder der Wirkung, die
die Dinge der Natur auf den Menschen ausüben. Die Kunst bildet nun
den Gott nicht als Mischgestalt, sondern als reifen Mann, als Menschen
mit gewissen, andere ausschließenden Eigenschaften. Gerade die sym-
bolisch wirkende Roheit der alten Bildwerke machte es leichter, an sie den
Gedanken der Unsterblichkeit, also des Beharrens in einem Lebensstande,
zu knüpfen. Am realistischeren, künstlerisch höher stehenden Werke muß
Alter, Wesen, Eigenart des Gottes geschildert werden. Je künstlerischer
das Werk also wird, desto weniger kann es göttlich, überirdisch sein. Es
hilft nichts, vom Künstler ein Rückversetzen in eine ältere Naivität zu
fordern. Diese ist durch die Erkenntnis der Natur unwiederbringlich ver-
loren. Die Jugendlichkeit und Jungfräulichkeit kann nicht durch einen
Willensakt zurückerworben werden. Der Künstler kann nicht anders als
höhnend den ablehnen, der von ihm durch Überlieferung Geheiligtes for-
dert. Ihm ist es das Überwundene, Unwahre, das Unheilige!
Die Kunst scheitert auch an den rein geistigen Aufgaben des Christen-
tums. So an der, den Allmächtigen, Allgegenwärtigen darzustellen, während
es dem Griechentum so herrlich gelang, seinen Parnaß in Bildsäulen um-
zusetzen. Michelangelo, Dürer oder Eyk haben nur den macht- und güte-
vollen alten Mann zu schildern vermocht, sind nicht über Phidias’ Zeus

hinausgekommen. Und der ist nicht der Unendliche, über Zeit und Raum
Erhabene, sondern lediglich ein geborener, in seinen Eigenschaften von
Zeit und Raum bedingter Unsterblicher, ein Gewaltiger mit bestimmten
Fehlern und von begrenztem Herrschergebiet. Die Darstellung Christi
verlor ihren überirdischen Glanz, seit die Kunst sich anschickte, aus einem
gläubigen Erleben heraus Christus zu schildern, das Typische, Symbolische
zu überwinden, an dem die künstlerisch Unreiferen so gern festhängen,
und der erregten Phantasie die Aufgabe zu stellen, die Formen zu finden,
in denen Christus als leidender Mensch auf Erden wallend erschienen sein
mag. Da kann die Kunst nicht bei einmal von ihr geschaffenen Werten stehen
bleiben, sie wird Äußerung eigener Erfahrung; und da diese sich ändert,
müssen auch die aus ihr sich ergebenden Folgerungen sich wandeln. Sie
wird mit jedem Schritte nach vorwärts der Natur sich nähern, immer
realistischer werden. Sie wird daher auf die Darstellung des der Phan-
tasie Entsprungenen verzichten müssen, da sie nicht mehr an die Wahr-
heit dieser Gebilde glauben kann. Sie muß die Vorstellungen von der
Erscheinung der Götter, die sie einst schuf, selbst wieder zerstören. Denn
kraft der stärkeren Sinne erkennt der Künstler zuerst das Unzulängliche am
Kunstwerke seines Vorgängers.
Der heilige Augustin, der gewaltige Held im Glauben, sagt einmal:
Christi Menschwerdung sei zu niedrig, um dargestellt werden zu können.
Die Darstellung Christi als Mensch ziehe Christus also herab; — und er
sagte das in einer Zeit, in welcher der Menge Werke von höchster Schönheit
vor Augen standen, in der daher die kirchlichen Asketen glaubten, Christus
als der Träger aller Leiden der Welt müsse auch die Schmach der Häß-
lichkeit getragen haben. Und aus gleichem Grunde meinte der heilige
Augustin, alle wahre Schönheit liege außerhalb der Sinne, im Geist, und
die einzig empfehlenswerte Darstellung des Höchsten sei das schlichte
Kreuz, das Symbol der Erniedrigung. So überwand die frühmittelalterliche
Kirche die antike Kunst!
Das heißt mit anderen Worten: Verzicht auf Kunst, Verzicht auf die
Darstellung dessen, was das erregte Gemüt in sich an Bildern erzeugt;
asketische Abschließung gegen die höchsten und reinsten Freuden des
Lebens! Die griechische Kirche zwang ihre Künstler, durch ein Jahrtausend
bei einmal festgestellten heiligen Kunstformen stehen zu bleiben. Kunst-
gelehrte streiten bei manchen ihrer Kunstwerke, ob sie aus dem 10. oder
18. Jahrhundert seien. Alles, was an Geistestaten im Westen sich vollzog,
ging spurlos am griechischen Osten vorüber; denn dort hatte die Kirche
die Macht, die Kunst zum Dienst zu zwingen. Die Größe der westlichen
Kultur ist zum wesentlichen darauf begründet, daß ein Dante, Michelangelo,
Luther und Goethe wohl ihrem schöpferischen Gewissen, nicht aber dem
Gebot der Kirche folgten.
Will die Kirche also sich nicht selbst lebendiger Kunst berauben, so
muß sie dem Schaffen freie Bahn lassen. Ist das ein Bekennen des sinnlich
Erschauten, so kann man ihm die Wege nicht vorweisen wollen. Man
führt sie damit zur Unwahrheit, zur Heuchelei, zur Unkunst. Man muß
sich klar werden, daß die Kunst keinen Herren vertragen kann, der sie
nach seinem Willen leitet. Nicht die Kirche, nicht der Staat, nicht der
Fürst, nicht die Gesellschaft darf ihr gegenüber sich Rechte anmaßen;
schon deshalb nicht, weil es ein vergebliches Bemühen ist, sie meistern
zu wollen. Nicht Geld noch äußere Ehren und nicht die laute Zustim-
mung der Gesellschaft bedingen ihr Fortschreiten. Der Künstler, dem Staat
und Kirche ihre Unterstützung und Förderung zu teil werden ließen, wird
nicht nach dieser, sondern allein nach dem inneren Wert seines Schaffens
bedeutungsvoll für die Welt; und die Männer, deren Leben dahinging im
opferreichen Kampf gegen die Mächte und den Geschmack der Gesell-
schaft, gehen als Sieger hervor, bestimmen die Geister, beherrschen die
Herrscher.

Gare d’Orleans in Paris. Architekt: Laloux in Paris.
'Seitenansicht in der Rue de Lille.


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